Nahversorgung On und Off auf dem Lande

Das Thema Nahversorgung gewinnt wieder an Bedeutung, auch auf politischer Ebene. Gleichzeitig breitet sich der Online-Handel aus und kann die Versorgung in ländlichen Regionen und Stadtteilen auf ganz neue Beine stellen.

Montag, 15. Mai 2017 - Management
Dieter Druck
Artikelbild On und Off auf dem Lande
Bildquelle: Getty Images,

Der Lebensmittelhandel steckt in einem grundlegenden Veränderungsprozess. Die Digitalisierung und der Online-Handel verändern die Handelswelt und werden neue Ansätze für die Lebensmittelversorgung auf dem Land und in Stadtquartieren bringen. Zukunftsforscher sagen voraus, dass mit fortschreitender Digitalisierung die Arbeitsplätze nicht mehr so stark an urbane Standorte gebunden sind und Dörfer dadurch wieder aufblühen.

Strukturschwache Regionen werden allerdings davon kaum profitieren und weiter schwächeln. In Thüringen fehlen vielen kleineren Gemeinden Lebensmittelläden. Nur noch jede dritte Gemeinde mit bis zu 1.500 Einwohnern hat einen sogenannten Nahversorger, der zu Fuß erreichbar ist. Handelsunternehmen nennen heute eine Mindesteinwohnerzahl in unmittelbarer Nähe von 2.000, um überhaupt eine Perspektive zu haben. In einigen Regionen – beispielsweise dem Unstrut-Hainich-Kreis – treffe dies nur noch auf jede fünfte Gemeinde zu. Außerdem schließen laut Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft im ländlichen Raum immer mehr kleine Lebensmittelgeschäfte, weil sie sich nicht mehr rentieren.

Der Handelsverband Bayern erwartet für die nächsten Jahre ein beschleunigtes Supermarkt-Sterben in Bayern. „Gerade in kleineren Orten und Stadtbezirken wird sich die Situation verschärfen“, sagte Vizepräsident Matthias Zwingel. Derzeit gebe es noch rund 9.000 Lebensmittelgeschäfte in Bayern. Deren Zahl werde durch den Strukturwandel im Einzelhandel und den boomenden Online-Handel weiter abschmelzen. Derzeit ist der Marktanteil der Internet-Lebensmittelhändler mit 0,8 Prozent gering. Es wird jedoch ein starker Anstieg erwartet. Studien zufolge könnte bis 2020 schon jeder fünfte Euro im Lebensmittel-Einzelhandel (LEH) online umgesetzt werden. Seit 2003 haben laut Handelsverband bereits 2.500 Lebensmittelgeschäfte in Bayern geschlossen – ein Rückgang von 21 Prozent. Durch den steigenden Online-Anteil werde sich in Bayern das Sterben der Supermärkte noch beschleunigen, prophezeit Zwingel.

Schnell gelesen
  • Abschmelzung bei Kleinflächen einerseits, andererseits ist die Nähe zur Einkaufsstätte wieder ein starkes Argument.
  • Erfolg auf kleiner Fläche ist möglich. Wichtig sind Wir-Gefühl und das Engagement des Kaufmanns.
  • Die zunehmende Digitalisierung wird den Handel mit Lebensmitteln in Stadt und Land revolutionieren.

Etwas anders ist die Sicht von Rainer Utz, Geschäftsführer der Utz GmbH in Ochsenhausen. In Kooperation mit den Handelsunternehmen LHG in Eibelstadt und dem Handelshaus Rau in Pfarrkirchen startete 1999 das Nahversorger Konzept „Um’s Eck“ für selbstständige Kaufleute. Gleichzeitig öffneten im Vertriebsgebiet die ersten Dorfläden, die Versorgungslücken wieder schlossen und durch Bürgerinitiative oder Kommunen getragen werden. Im süddeutschen Raum ist das eine nachhaltige Bewegung. Inzwischen wird der 100. Dorfladen gezählt. Damit wurden viele Standorte gesichert bzw. neu eröffnet und die wettbewerbs- sowie strukturbedingte Abschmelzung von Kleinflächen im LEH kompensiert. „Bei der Sicherung der Nahversorgung wünschen wir uns aber nichtsdestotrotz noch mehr politische Unterstützung“, fügt Utz an, „insbesondere auch für bestehende kleinflächige Nahversorger. Der kleine Einzelhändler ist bei der Existenzsicherung hier meist auf sich alleine gestellt.“ Ebenso arbeiteten die Großhändler daran, das Thema in die „große Politik“ zu bringen, d. h. Politiker auf Bundes- und Landesebene dafür zu sensibilisieren.


Auch Thomas Dörfelt, Geschäftsführer der LHG in Eibelstadt, beobachtet in der Region einen weiteren Abschmelzungsprozess im kleinflächigen, selbstständigen LEH. Insbesondere fänden potenzielle Nachfolger heute in Zeiten einer Vollbeschäftigung leichter gut bezahlte Jobs in anderen Branchen. Auch die seit Januar gültigen „Grundsätze zur ordnungsmäßigen Führung und Aufbewahrung von Büchern, Aufzeichnungen und Unterlagen in elektronischer Form sowie zum Datenzugriff (GoBD)“ hätten viele demotiviert. Sie sähen sich gezwungen, hohe Investitionen zu tätigen, die keinen Image-Gewinn bedeuten, sondern als staatliche Schikane empfunden werden. Es sei zu befürchten, dass das diskutierte „Kassengesetz“ die Kleinen noch mehr gängele: „Warum misstraut der Staat vor allem denjenigen, die oft kaum über die Runden kommen?“, fragt Dörfelt. Und er fordert auch, dass Beratung und Fördermittel nicht nur beim Start fließen, sondern auch Coaching-Maßnahmen fortlaufend in bestimmten Abständen angeboten werden.

Positiver Gegentrend sind aus seiner Sicht die auf bürgerschaftlicher Initiative basierenden Dorfläden: Sie breiteten sich immer mehr aus und hätten zum großen Teil Erfolg. Das Wir-Gefühl sei hier ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Nur sei das auf dem Land oftmals leichter zu wecken als in anonymen Stadtteilen.

Vor sieben Jahren startete Tegut das Konzept „Das Lädchen für alles“ , auf dessen Basis Nahversorgungsmodelle umgesetzt werden. „Die Grundversorgung mit guten Lebensmitteln aus der Region ist uns wichtig und dass die Lädchen den Anwohnern als Treffpunkt dienen“, erläutert Knut John, Verantwortlicher für das Tegut-Format, der das Konzept mit aus der Taufe gehoben und über die Jahre weiter entwickelt hat. Heute sind es 30 Lädchen, davon sieben inhabergeführte mit selbstständigen Kaufleuten. Hinter den anderen stehen lokale sowie soziale Betreiber wie z. B. die AWO, das Berufsbildungswerk Hessen, das Christopherus-Werk Erfurt, Thüringerwald Stiftung oder Aufwind. Dort arbeiten auch Menschen mit Handicap, und es wird ausgebildet. Wirtschaftliches Ziel ist, dass der soziale Betreiber eine „schwarze Null“ schreibt. In Langenfeld bei Erlangen und in der Nähe von Jena kommen in diesem Jahr zwei weitere Standorte dazu.

Betrieben wird das Nahversorgerkonzept ab 200 qm Verkaufsfläche aufwärts und mit einem Angebot von rund 4.200 Artikeln. Der Kunde findet dort die gleichen Sortimentsbausteine wie im klassischen Tegut-Markt, natürlich entsprechend kleiner. Dabei gelten die gleichen Preise wie in den Supermärkten. Ein weiterer essenzieller Baustein sind Dienstleistungen. wie z. B. Post- und Bankenservices, Paketdienste und Reinigungsannahme.

„Der Onlinehandel wird bei der Nahversorgung ein Größeres Gewicht bekommen.“
Knut John, Tegut

Das „Lädchen für alles“ findet sich sowohl auf dem Land als auch in Stadtquartieren. Je nach Kaufkraft sollten in ländlichen Regionen im engsten Umkreis in der Regel mindestens 1.500 Menschen leben. In Südhessen, ausgestattet mit höherer Kaufkraft, reichen unter Umständen auch 1.000. In einkommensschwächeren Gebieten etwa in Thüringen braucht es mehr als 2.000.

Marburg, Schweinfurt und Eschwege sind Beispiele für städtische Lagen. In Eschwege ist das Lädchen im Zentrum der 20.000 Einwohner zählenden Stadt der einzige Lebensmittelanbieter.

Nicht erst seit der Kooperation mit Amazon denkt man bei Tegut weiter. Der Online Verkauf von Lebensmitteln werde auch die „kleine dörfliche Welt“ in den kommenden Jahren verändern, ist John überzeugt. Vieles deute daraufhin, und bei Tegut beschäftige man sich damit. Auch die Politik sei im Thema drin. Der Online-Handel werde bei der Nahversorgung in den kommenden Jahren ein größeres Gewicht bekommen, offen sei heute nur die Frage des Wie.

Andere Einschätzungen gehen davon aus, dass sich Online-Konzepte noch lange Zeit auf Ballungsräume konzentrieren werden und erkennen derzeit keine „nennenswerten Initiativen“ in ländlichen Regionen. Aber das kann sich ja ändern!


Interview mit Max Thinius: Neue Wege zum Kunden

Für die Nahversorgung brechen mit der Digitalisierung andere Zeiten an. Neue Einkaufsszenarien werden sich in den kommenden Jahren ergeben. Der Online-Handel wird komplett anders sein als der stationäre.

Max Thinius ist sicher, dass sich das „andere Einkaufen“ in Stadt und Land durchsetzen wird, und prognostiziert einen großen Wandel.

Wird der Online-Handel die Versorgung mit Lebensmitteln auf dem Land nachhaltig verändern?
Max Thinius: Ich bin davon überzeugt. Die generelle Digitalisierung verändert das Gesamtbild. Ich bin u. a. involviert in das Projekt „Digitale Dörfer“ der bayerischen Landesregierung, der Uni Deggendorf und dem Fraunhofer Institut. Es geht dabei auch um Szenarien zur Verbesserung der Nahversorgung mit Lebensmitteln unter Berücksichtigung einer lebendigen Dorfstruktur. Die zunehmende Digitalisierung bietet viele Vernetzungsmöglichkeiten, daraus ergeben sich neue Ansätze.

Der stationäre Handel blickt erwartungsvoll u. a. auf Amazon. Ist das wirklich der revolutionäre Schritt?
Google Home oder Amazon Alexa sind aus meiner Sicht zurzeit noch zu komplex und auch nicht zwangsläufig gesetzt. Aber es werden logistische Grundstrukturen und damit neue Möglichkeiten geschaffen, die diese Systeme – und auch spätere – unterstützen. Als Verbraucher werde ich mich künftig nicht mehr mit dem Lieferanten über Zeitfenster austauschen, weil er aufgrund ihm vorliegender Daten weiß, wann ich zu Hause bin. Aufgrund unserer Social-Media-Profile und sonstiger Daten werden wir passgenaue Empfehlungen erhalten – und die sogar vom Kunden verschlüsselbar.

Zur Person

Max Thinius ist einer der führenden Futurologisten in Europa mit einem Schwerpunkt auf Gesellschaft und Handel. Er ist Gründer der dazu gehörigen Play- Innovation: eine Innovations- Gesellschaft, die Geschäftsmodelle und Produkte für Handel wie Städte und Regionen entwickelt.

Und dann weiß mein Händler auch im Voraus, was ich haben möchte.
Der intelligente Kühlschrank ist ein Märchen. Aber der Mülleimer, der entsorgte Verpackungen scannt, erlaubt mir, ein Vorratslimit festzulegen, z. B. immer zwei Liter Milch im Haus, ab dem automatisch geordert wird. Andererseits basiert die neue Einkaufswelt stärker auf individuellen Empfehlungen des Händlers, bis hin zu kompletten Erlebnissen – etwa das Abendessen zu Zweit –, die er dem Kunden anbietet, bevor dieser sich überhaupt seiner Präferenzen und Wünsche bewusst wird. Er kauft mehr das Erlebnis als die einzelnen Produkte.

Aber wie kommt das Ganze zum Kunden, das ist doch das Problem?
Die Logistik ist heute sehr weit. Für die Zukunft denke ich, dass das autonome Fahren dafür viele Lösungen bereithält. In Kopenhagen z. B. kommen jetzt autonome Lastenfahrräder zum Einsatz, die Waren zum Kunden bringen. Aber es sind auch selbstfahrende Nahversorgungseinheiten vorstellbar, die Lebensmittel in ländliche Regionen liefern und über die gleichzeitig Bankservice und ärztliche Dienstleistungen abgedeckt werden.

In welchen Zeitraum könnte das Realität werden?
Schwer zu sagen. Wir befinden uns heute in einer Phase, die vergleichbar ist mit dem Aufkommen der Dampfmaschine und der damit eingeleiteten Industrialisierung. Erste Tests werden aber wohl 2020 starten, und fünf Jahre später praktikable Lösungen entstehen. Spätestens in zehn Jahren werden wir alle die neue Einkaufskultur als einen Teil unseres Alltags nutzen.