Interview - W. Vieth und Prof. Dr. B. Hallier Fachkompetenz gefragt

Der moderne Lebensmittelhandel heute kann mittlerweile auf eine schon lange Geschichte zurückblicken, die mit „Tante Emma" überhaupt nicht mehr beschrieben werden kann.

Donnerstag, 10. März 2011 - Management
Reiner Mihr
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Bildquelle: Herribert Boernichen

Die LP befragte auf der EuroShop zwei Zeitzeugen: Dipl. Volksw. Walter Vieth (tätig bei Kaufhalle, Aldi, Metro, Spar, Plus und Wissoll) und Prof. Dr. Hallier (seit 1985 Geschäftsführer des EHI Retail Institute).

Prof. Hallier, von der Universität Prag sind Sie für die Erforschung der langen Innovationszyklen in Sektor Handel geehrt worden; gibt es auch „kleine Schritte", die den Handel beeinflusst haben?
Hallier: Die großen Veränderungen des Handels erfolgen seit 1800 in Schüben von 25 Jahren – beispielsweise 1950 die Einführung der Selbstbedienung, 1975 die Shopping Center und in 2000 das Internet. Dieser Mainstream wird dann untermauert wie in meinem Evolutionstornado Handel für Deutschland dargestellt durch 10-Jahresschritte: 1950 Bedienung, 1960 Selbstbedienung, 1970 Push-Strategien der Konsumgüterindustrie, 1980 EAN/scanning, 1990 Regaloptimierung und Direkte Produkte-Rentabilität, 2000 ECR und Total Supply Chain im traditionellen Handel – B2B/B2C als neue Technologien, 2010 Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility – technisch die Integration von sozialen Netzwerken. Diese Sektoranalyse für den Handel setzt sich natürlich aus einer Unmenge einzelner kleiner Innovationen innerhalb der einzelnen Unternehmen zusammen: teilweise in Form von einzelnen Anwendungen, von Testmärkten aber auch der Neupositionierung von Betriebslinien oder ganzen Unternehmen. Die wachsende Nachfrage nach Ausstellungsfläche auf der diesjährigen EuroShop ist ein Spiegelbild der Innovationskraft der technischen Anbieter! Für den IT-Bereich musste mit EuroCIS eine jährliche Plattform die EruoShop ergänzen, weil dieses Marktsegment überproportional wächst!

Herr Vieth, Sie sind in der Entstehung von Aldi und Metro verantwortlich beteiligt gewesen – wie empfinden Sie im Rückblick die Historie dieser beiden Unternehmen?
Vieth: Zunächst zu Aldi: Die Gebrüder Karl und Theo Albrecht hatten nach dem Krieg aus dem Essener Kolonialwaren Geschäft ihrer Mutter einen Filialbetrieb mit ca. 300 kleinen Stubenläden zwischen Dortmund und Düsseldorf entwickelt. Etwa 350 markenlose Artikel des Trockensortiments wurden in Bedienung - zum Teil noch in Tüten abgefüllt – sehr preiswert verkauft. Die Lädchen waren sehr schlicht eingerichtet, zwischen 20 und 30 qm groß und lagen meist in Arbeiter-Siedlungen. Es gab keine der damals üblichen Rabattmarken und keinen Kredit.

Die Zeit dieser Läden ging 1960 zu Ende. Die Supermärkte der Firmen wie Kaiser's, Tengelmann, Schätzlein, Bolle, Schade & Füllgrabe, Konsum etc. machten mit der Selbstbedienung, einem riesigen Sortiment und vor allem mit Frischwaren wie Obst und Gemüse, Molkereiprodukten und Fleisch das Geschäft. Zu spät und halbherzig (zu kleine Flächen, wenig Frische, Frischfleisch mit einem Pächter) testeten auch die Albrecht Brüder die Supermarkt-Vertriebsform – wenig erfolgreich und mit Verlust.

Als zweiten Ausweg aus dieser schwierigen Situation testeten die Albrecht-Brüder 1961/1962 in Neuss und Mülheim unter dem Namen Alio das Cash u. Carry Vertriebssystem – leider auch nur halbherzig mit zu geringer Fläche (ca. 2.000 qm), zu geringem Sortiment und ohne Frischartikel und Non Food. Auch hier drohten Verluste.

In dieser schwierigen Lage entwickelten die Gebr. Albrecht 1961 – also vor 50 Jahren - die aus den USA kommende Idee Discount mit einer bis dato nicht bekannten Kosten-, Sortiments- und Qualitätsdisziplin zum System Aldi. Ich hatte das Glück, bei dem damals schon getrennt von seinem Bruder operierenden Karl Albrecht als Bezirksleiter die Ersten Aldi Süd Märkte (in Reihenfolge Dinslaken, Walsum, Wesel, Bocholt) einzurichten, zu eröffnen und zu betreuen. Damals ahnte niemand, dass dieses aus der Not geborene Discountsystem einmal weltweit multipliziert werden würde und z. B. in Deutschland einen Marktanteil von fast 40 % erreichen könnte.

Sie kennen ebenfalls die Familie Schmidt-Ruthenbeck. Wie kam es zu den ersten Metro Cash&Carry Märkten?
Vieth: 1962 erreichte mich über die Deutsche Spar-Zentrale in Frankfurt das Interesse der Spar-Zentrale Ruhr-Niederrhein. Deren Inhaber Wilhelm Schmidt-Ruthenbeck und Ernst Schmidt – wie bei Albrecht ebenfalls zwei Brüder in zweiter Firmen-Generation – planten in Essen einen Cash & Carry Markt und suchten dafür den Geschäftsführer.

Ich hatte neun Monate Zeit, um zusammen mit den Führungskräften der Duisburger Spar Zentrale in Essen die ca. 5.000 qm große erste Metro zu planen und am 8. November 1963 (also ebenfalls vor fast 50 Jahren) zu eröffnen. Im Gegensatz zu dem damaligen Marktführer RATIO Münster und Bochum bot schon diese erste Metro das gesamte Sortiment (ca. 40.000
Artikel) unter einem Dach und – weltweite Neuheit – mit elektromechanischer Abrechnung (IBM-Lochkarten-System) an. In damaliger Zeit konnten die kleinen bis mittelständischen Gewerbetreibenden (überwiegend LM-Einzelhändler, Kioskbesitzer, Gastronomen) durch Selbstabholung und Barzahlung an gleiche Einkaufspreise wie größerer Betriebe kommen, konnten ihren Bedarf von 6.00 bis 22.00 Uhr decken und hatte auch Zugang zu Randartikeln ihres Sortimentes (wie z. B. Textilien, Elektro, Haushaltswaren) erhalten. Das damalige Umsatzsteuersystem, die Exklusivät durch Einkaufsausweise und die Ladenpreisbindung waren ebenfalls wesentliche Elemente für den raschen Erfolg der ersten Metro.

1965 kamen mit dem kongenialen Otto Beisheim und der kapitalstarken Haniel Gruppe die Bausteine hinzu, die zusammen mit der Gründerfamilie Schmidt-Ruthenbeck die Multiplikation des Systems Metro zum Marktführer und zu einem der größten Handelskonzerne der Welt ermöglichten.


Wird es die Formate „Discount" und „C&C" auch noch in 50 Jahren geben?
Hallier: Es gibt ja schon heute eine Differenzierung in Discount zwischen „Hard-Discount" , „Soft-Discount", „Markendiscounter"...; allein Aldi unterscheidet sich schon in „Nord" und „Sud" – nicht zu sprechen von der US-Variante „Trader Joe". Sicher ist, dass die soziodemographische und globale Entwicklung immer ein Konsumsegment „Niedrigpreis" erfordert.

„Cash&Carry" bedeutet wörtlich: „zahlen und wegbringen" – aber aktuelle experimentieren „C&C"-Betriebe auch mit dem Zustell-Großhandel! 1960 war C&C der Angriff auf den Zustell-Handel! Darüber hinaus gibt es im Ausland teilweise keine Differenzierung zwischen C&C und SB-Warenhäusern. Persönlich sehe ich – unabhängig von der historischen und der rechtlichen Definition – heute häufig den Unterschied allein in der Gebindegröße: Großgebinde in C&C, Kleingebinde den für den Konsumenten zugänglichen Betriebsformen. Für kleinflächige Wiederverkäufer kann evtl. der Einkauf beim Discounter attraktiver sein als beim C&C , da die Fahrtkosten/-zeiten ebenso kalkuliert werden müssen.

Als Beobachter hat man oft das Gefühl, die Entwicklungsgeschwindigkeit (nicht nur) im Handel nimmt immer mehr zu. Was sind für Sie die aktuellen bahnbrechenden Ereignisse und welche erwarten Sie für die Zukunft?
Vieth: Die aktuellen Themen im Einzelhandel heißen „Glaubwürdigkeit" und „Nachhaltigkeit". Die Zeit der „Marktschreier" und des „immer mehr" und „immer größer" geht m. E. deutlich ihrem Ende entgegen. Natürlich heißt es weiter „Kosten Sparen und preiswert sein". Aber deutlich den gleichen Rang nehmen die Prädikate „hochwertig", „gesund" und „umweltschonend" ein. Hinzu kommt, dass besonders die „Fachkompetenz" wieder immer mehr im Mittelpunkt stehen wird. Der durch die modernen Medien und seine bessere Ausbildung wache Verbraucher sucht zunehmend den glaubwürdigen, fachkompetenten Händler und Berater, den „ehrlichen Kaufmann". Hier entstehen wieder und immer mehr qualifizierte Einzelhandelsberufe. Alleskönner wie das klassische Kaufhaus oder die SB-Warenhäuser und „Billigheimer" werden, wenn sie sich nicht neu positionieren, zunehmend von Spezialisten (Fachmärkten, On-Line-Händlern) abgelöst werden.

Hallier: Nicht nur die Geschwindigkeit der Entwicklung neuer Technologien nimmt zu, sondern häufig auch deren Komplexität. Ihnen steht gegenüber die Gewohnheit und die geistige Kapazität der Konsumenten und Handelsangestellten! Dem technischen Angebot steht teilweise (insbesondere bei älteren Personen) eine Überforderung gegenüber. Ich glaube, dass hierin die 25 Jahre Penetrationszeitraum für die großen Schritte begründet liegen. Deswegen scheitern teilweise Pioniere der Innovationen: sie kommen zu früh – die Rezeption braucht Zeit!

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Zeitzeugen der Branche: Walter Vieth (u.a. Kaufhalle, Aldi, Metro, Spar, Plus und Wissol) und Prof. Dr. Bernd Hallier, seit 1985 Geschäftsführer des EHI Retail Institute.