Handel International Klein, aber oho

In Polen und Tschechien ist Tante Emma nach wie vor im Business, auch wenn die Modernisierung der Handelslandschaft schnell vorangeht.

Donnerstag, 26. Januar 2017 - Management
Tatjana Wolff, Franziska Schmidt
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Bildquelle: Planet Retail

In Polen und Tschechien hat sich der Lebensmittelhandel in den vergangenen 15 Jahren rapide modernisiert. Ein Blick selbst in mittelgroße Städte der Länder offenbart eine hohe Dichte an modernen Formaten, nicht nur was die Anzahl der Läden selbst angeht, sondern auch bezüglich ihrer Diversifiziertheit.

Was bei der Erzählung solcher Erfolgsgeschichten jedoch zu oft außer Acht gelassen wird, sind die Chancen, die nach wie vor im Bereich des traditionellen Handels liegen. Dieser steht nämlich für über ein Drittel, genauer 35 Prozent, des Umsatzes im polnischen und 24 Prozent des tschechischen Lebensmittelmarktes. Somit wandern 18,6 Mrd. Euro in Polen und 4,5 Mrd. Euro in Tschechien an modernen Kanälen vorbei und zu einer Vielzahl kleinerer, unabhängiger Händler.

Zum Vergleich: In fast gänzlich modernisierten Märkten wie etwa Deutschland oder dem Vereinigten Königreich beträgt der Anteil des traditionellen Lebensmittel-Einzelhandels magere 3 Prozent. Obgleich in Polen wie auch in Tschechien der Anteil stetig zurück geht, sind die unabhängigen Kaufleute weiterhin Teil eines wachsenden Marktsegments, was die Umsätze angeht, und erfüllen eine zentrale Rolle in der Nahversorgung vor allem von ländlicheren Gegenden.

Die Autoren

Tatjana Wolff und Franziska Schmidt sind Analystinnen bei Planet Retail. Sie berichten im Wechsel mit Boris Planer über Entwicklungen im internationalen Handel.

Unterschiede in der Lieferkette
Doch was unterscheidet eigentlich den modernen vom traditionellen Lebensmittel-Einzelhandel? Die hier verwendeten Umsatzschätzungen betreffen die Lieferkette. Während moderne Händler ihre Produkte vor allem direkt von Herstellern beziehen, haben traditionelle Händler eine diversifizierte Lieferkette. Sie beziehen ihr Angebot größtenteils nicht direkt von der Industrie, sondern von Cash & Carry-Läden, anderen Formaten des Lebensmittel-Einzelhandels in räumlicher Nähe oder von Großmärkten. Manche der unabhängigen Kaufleute gehören Einkaufsgemeinschaften an, was allerdings keineswegs für jeden ein attraktives Geschäftsmodell ist. Gründe hierfür sind, dass die Bedingungen als zu streng und die Franchisegebühren als zu hoch empfunden werden.

Die Fähigkeit, (strategische) Entscheidungen unabhängig zu treffen, ist ein weiterer Grund für viele Händler, lieber komplett eigenständig zu bleiben. Desweiteren ist es für viele von ihnen wichtig, flexibel auf lokale Einkaufsgewohnheiten oder deren Veränderungen eingehen zu können. Großhändler und Einkaufsgemeinschaften, die dennoch mit diesen Kaufleuten ins Geschäft kommen wollen, müssen abwägen, ob es nicht lukrativer für sie ist, mit weniger strengen Verträgen mehr unabhängige Kaufleute an sich zu binden, als weniger mit eng gefassten. Solche Abwägungen werden umso wichtiger in einem Umfeld, in dem sich der Handel stetig modernisiert und der Pool an potenziellen Großhandelskunden entsprechend kleiner wird.

Vertrauensverhältnis
Die Vorteile des traditionellen Handels für Konsumenten liegen auf der Hand: Nicht nur die Tatsache, dass es in diesen kleinen Läden kaum Wartezeiten an der Kasse gibt und sie in der Nachbarschaft gelegen sind. Manche Kaufleute lassen zudem anschreiben. Nicht zuletzt, weil man sich als Nachbarn schließlich kennt und einander vertraut. Diese Tante-Emma-Läden stellen wichtige Dreh- und Angelpunkte einer Dorfgemeinschaft dar. Jene soziale Rolle ist vor allem interessant, sobald man die Bevölkerungsstruktur in ländlichen Regionen beachtet und feststellt, dass auch in Polen und Tschechien die junge Bevölkerung in die Stadt zieht.

Gut organisierte Kaufleute
Das persönliche Verhältnis zum Kaufmann ist ausschlaggebend für die Konsumenten eines Tante-Emma- Ladens. Sobald der Kunde weiß, dass eine greifbare Person für die Auswahl der Produkte zuständig ist und im Zweifelsfall persönlich zur Verfügung steht, ist es leichter für ihn, Preise als gerecht und angebracht zu beurteilen. Auch wenn die meisten Läden des unabhängigen Einzelhandels kein modernes Erscheinungsbild aufweisen, sind sie aufgrund der Erfahrung der Kaufleute nicht mit einem ramschigen, informellen und unangemeldeten Graumarkt zu verwechseln.