Digitalisierung im Lebensmittelhandel Online ist Zukunftsthema

Digitalisierung ist 2016 d i e Herausforderung für den Lebensmittelhandel. Branchenexperten kommentieren.

Freitag, 15. Januar 2016 - Management
Lebensmittel Praxis
Dr. Martin Fassnacht
Jörg Pretzel

Geschäftsführer GS1 Germany

Digitalisierung dominiert
Die fortschreitende Digitalisierung unserer Gesellschaft wird die Entwicklungen im Einzelhandel auch im Jahr 2016 dominieren. So wird der klassische Kaufprozess auch im Lebensmitteleinzelhandel verstärkt unter Druck geraten. An seine Stelle tritt eine individuelle Shopper Journey, die durch die Nutzung verschiedener Kanäle – offline und online – charakterisiert ist. Bereits heute, aber noch stärker in Zukunft, entscheidet demnach alleine der Käufer, wo, wann und über welchen Kanal er sich über Produkte informiert und kauft. Folglich müssen die Wünsche und Bedürfnisse des Shoppers zu jedem Zeitpunkt in den Mittelpunkt des Handelns gestellt werden. Hier ist das Stichwort Omnichannel-Retailing, also Kundenansprache über verschiedene, vollständig integrierte Kanäle. Sei es freies WLAN in Filialen, Rückverfolgung von Produkten via F-trace oder Nutzung von Location-Based-Services wie Click-and- Collect; bereits heute gibt es Beispiele für online-basierte Services, die das Bedürfnis der Shopper nach Informationen und Convenience bedienen. Folglich kann im Jahr 2016 mit einer weiteren Digitalisierung des Lebensmitteleinzelhandels gerechnet werden.


Univ.-Prof. Dr. Martin Fassnacht

Lehrstuhl für Marketing und Handel, Whu Otto Beisheim School of Management

Lebensmittel Online - besser dezentral
Wir alle merken, dass unser Leben digital ist. Doch im Gegensatz zu anderen Kategorien wie Mode steckt der Online-Handel mit Lebensmitteln noch in den Kinderschuhen.

Grund: geringe Margen von Lebensmitteln und Eigenschaften wie Verderblichkeit
und  damit verbundene hohe Logistikkosten. Zudem: Von allen Handelsleistungen ist Sortimentsgestaltung aus Verbrauchersicht entscheidend. Verbraucherwünsche werden immer heterogener und damit lokal unterschiedlicher. Beide Gedanken – Digitalität und Heterogenität der Verbraucher – haben zur Folge, dass Handelsunternehmen nicht nur stationär, sondern auch online Verbraucherwünsche differenzierter bedienen müssen. Dezentralität ist daher der zukunftsweisende Weg. Damit kann besser gewährleistet werden, heterogene Verbraucherbedürfnisseadäquat zu bedienen. Händler vor Ort wissen – dank vorliegender Daten und direkter Kontakte zu Kunden – über deren Wünsche besser Bescheid als die Zentrale. Die höheren Kosten der Dezentralität für Händler sind mit einer intelligenten Gestaltung der Versandkosten zurückzuholen.

Verbraucher können selbst selektieren: Schnelligkeit und Pünktlichkeit muss bezahlt werden, länger im Voraus und standardisiert bestellen kommt billiger. Viele etablierte Handelsunternehmen stehen aus Verbrauchersicht für eine hohe Lebensmittelkompetenz. Amazon hat bei Lebensmitteln viel aufzuholen, denn hier Verbrauchergewohnheiten zu ändern, ist langwierig.

Daher gilt für etablierte Handelsunternehmen: eigene Stärken ausspielen und nicht nervös machen lassen.


Franz-Martin Rausch

Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes des deutschen Lebensmittelhandels

Mehr Qualität, mehr Wachstum
Der Handel mit Lebensmitteln in Deutschland ist wettbewerbsintensiv. Die Nachfrage stagniert. Die Ansprüche an die Produkte steigen. In einem weitgehend gesättigten Markt wird es unter Beibehaltung traditioneller Geschäftsmodelle immer schwieriger, Absatz und Umsatz zu erhöhen. Neue Vermarktungskonzepte für Lebensmittel müssen den Konsumenten daher einen nachvollziehbaren Zusatznutzen bieten. Guter Geschmack, Sicherheit, Frische, Verfügbarkeit und Preiswürdigkeit sind zwar noch immer die wichtigsten
Kundenansprüche. An diese koppeln Verbraucher jedoch zunehmend soziale, ökologische und ethische Aspekte. Daher werden Absatz und Umsatz nachhaltiger Lebensmittel auch 2016 weiter wachsen. Des Weiteren verändern soziodemografischer Wandel sowie höhere berufliche Flexibilität und Mobilität der Menschen das Verzehrverhalten. Es wird weniger gekocht und mehr Außer-Haus gegessen, mit der Folge, dass die Mengennachfrage im LEH zurückgeht. Mit Angeboten der Unterwegsverpflegung und neuen Gastronomiekonzepten gleichen die Handelsunternehmen das aus und erschließen zudem neue Umsatzpotenziale. Auf der einen Seite werden Convenience-Sortimenteausgebaut. Auf der anderen Seite werden Lebensmittelverkauf und Gastronomie zusammengeführt.Supermärkte binden damit Kunden. Diesen Weg werden die Händler fortsetzen müssen, um erfolgreich zu bleiben – auch im Wettbewerb der Vertriebsformate. Von bedarfsgerechten Angeboten, profitieren nicht nur die Verbraucher, sondern ebenfalls der Handel, weil die Kunden dafür auch etwas tiefer in die Tasche greifen.


Univ.-Prof Dr. Hendrik Schröder

Universität Duisburg-Essen

Online-Vertrieb auf Vormarsch
Die Zahl der Online-Shops steigt, die Vielfalt der Angebotsformen wächst, ebenso das Kundeninteresse an solchen Lösungen. Technisch ist es möglich, dass sich Produkte selbst bestellen und dass sie nicht nur bis zur Haustür geliefert, sondern in den Kühlschrank oder an anderen Plätzen eingeräumt werden. Erstaunlich sind manche Kommentare zu dieser Entwicklung. Der Online-Handel wird als das Böse dargestellt, die Kunden als die Treulosen, die stationären Händler als die schmählich Verlassenen. Polemik, Schuldzuweisungen oder gar Rufe nach staatlichen Eingriffen zum Schutz stationärer Händler sind nicht angebracht. Wenn Händler nicht mehr leistungsfähig oder leistungsbereit sind, steht am Ende nur der Marktaustritt. Das ist keineswegs das oft beschworene Ende stationärer Händler. Vielmehr werden dort, wo Kunden sich durch das bestehende Angebot nicht gut versorgt fühlen, neue oder auch etablierte Angebote auftreten. Städteplaner sollten auch über die leichte Erreichbarkeit der Geschäfte und Parkraum nachdenken, die Kommunen über Parkgebühren, Immobilieneigentümer über die angemessene Höhe der Mieten. Bleiben die Kunden aus, gibt es gar nichts. Auch Händler sind gefordert, nicht nur eigene Konzepte zu überarbeiten, sondern auch mehr Kooperation vor Ort zu praktizieren. Devise 2016: Vom Handeln Einzelner zum Handeln der Gemeinschaft kommen.

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