Veggie Round Table „Unumkehrbare Entwicklung“

Es ist das neue Lieblingskind des Handels: das vegetarisch-vegane Angebot. Zeit für ein Gespräch mit Experten. Welche Voraussetzungen die Produkte erfüllen müssen, um beim Verbraucher anzukommen, und was sich vom Bio-Markt auf die Warengruppe übertragen lässt, lesen Sie auf den nächsten Seiten. Das Gespräch führten Reiner Mihr und Bettina Röttig

Freitag, 30. Januar 2015 - Management
Bettina Röttig
Artikelbild „Unumkehrbare Entwicklung“
Bildquelle: Thienemann

Zugegeben: Oft ist das Angebot an vegetarischen und veganen Produkten in den Regalen des Handels noch sehr überschaubar. Wenn Intensität und Dynamik eines Round-Table-Gesprächs jedoch als Barometer dafür betrachtet werden können, ob ein Sortiment auch Herzensangelegenheit des Handels ist, dann lässt sich nach gut zwei Stunden schnellster und lebhaftester Diskussion sagen: Hier wird sich bald sehr viel bewegen.

Die ewige Frage vorweg: Warum brauchen Vegetarier und Veganer Fleischersatzprodukte in Form von Bratwürstchen oder Schnitzeln?
Stefan Ladage: Die Produkte sind eine gute Ergänzung in der vegetarischen Ernährung. Ich bin seit 15 Jahren Vegetarier. Die ersten Jahre wollte ich gar nichts mehr essen, das mich an Fleisch erinnert, habe mich richtig von Fleisch und Wurst entwöhnt. Irgendwann wird der Speiseplan jedoch etwas eintönig, ich brauche auch mal andere Texturen, ein anderes Mundgefühl. Aus diesem Grund greife ich zu Ersatzprodukten.

Kerstin Ladage: Wir Menschen sind konditioniert, haben unsere gesellschaftlichen Rituale und Gewohnheiten. Für diejenigen, die sich neu für eine fleischfreie Ernährung entscheiden oder als Flexitarier öfter auf Fleisch und Wurst verzichten, helfen Ersatzprodukte enorm.

Die vegetarische und vegane Ernährung ist in. Eine aktuelle LP-Umfrage hat ergeben, dass der Großteil der Lebensmittelhändler vegetarisch-veganen Sortimenten großes Potenzial beimisst. Rund 20 Prozent der Befragten sieht die Entwicklung jedoch als Zeitgeisterscheinung bzw. Fehler. Wie bewerten Sie diese Aussagen?
S. Ladage: Aktuell ist das Angebot an vegetarischen und veganen Artikeln im Handel noch klein, es steht für rund 1,2 Prozent des Gesamtumsatzes mit Lebensmitteln. Verglichen mit dem Anteil der Bundesbürger, die Vegetarier sind – nämlich Umfragen zufolge knapp 10 Prozent – sehe ich noch enormes Potenzial.

Godo Röben: Dass ein Teil der Händler noch nicht an die Warengruppe glaubt, liegt bisher sicherlich an den Produkten. Viele schmecken nicht. Der Markt für alkoholfreies Bier ist auch erst so rasant gewachsen, als es endlich gute und schmackhafte Produkte gab. Ich halte den Trend zur vegetarischen bzw. veganen Ernährung im Hinblick auf den rasanten Anstieg der Weltbevölkerung für eine unumkehrbare Entwicklung und wichtige Lösung, wollen wir auch künftig die Ernährung der Menschen gewährleisten.

Horst Röthemeier: Wir Händler sind nur ein Teil der Gesellschaft. Die Frage, die sich mir stellt: Müssen wir Treiber einer solchen Entwicklung sein, oder lassen wir uns treiben und reagieren, wenn der Kunde fordert: „Bitte besorge mir Artikel XY“? Wahrscheinlich wird es ein Mix aus beidem sein müssen. Ich erinnere mich, dass es rund um das Jahr 2000 viele Kollegen gab, die ablehnend gegenüber Bio-Produkten eingestellt waren. Heute führt es jeder. Die Entwicklung wird beim vegetarisch-veganen Sortiment sicher ähnlich sein.

Bio ist vor allem in Großstädten gefragt. Ist dies bei vegetarisch-veganen Produkten ähnlich?
Jan Bredack: Die Nachfrage hat sowohl bei Bio als auch im vegetarisch-veganen Segment immer auch mit dem sozioökonomischen Umfeld zu tun. In Großstädten sowie Ballungszentren ist sowohl vom Einkommen als auch vom Bildungsniveau häufig ein höheres Niveau gegeben, als auf dem platten Land. Übrigens ernährt sich lediglich die Hälfte unserer Kunden strikt vegan. Sie wären als Zielgruppe im Handel keinesfalls ausreichend. Zu uns kommen vor allem viele Allergiker.

Wie ist es aktuell um das Angebot bestellt?
S. Ladage: Es ist sehr schwierig, vegetarische bzw. vegane Produkte im Bestand zu ermitteln, da diese nicht einzeln ausweisbar sind. Ich habe nach Lieferanten analysiert und habe aktuell ca. 51 vegetarische und zusätzlich 15 vegane Produkte gelistet. Angefangen haben wir z. B. im Kühlregal mit 8 Artikeln, die sich zunächst zum Teil zu langsam drehten. Meine Mitarbeiter wollten daher schon die Notbremse ziehen, aber ich habe auf Durchhalten gesetzt und mittlerweile die Flächen deutlich vergrößert. Einige Marken laufen wirklich gut.

Röben: Der Lebensmittelhandel arbeitet an einer schnellen Ausweitung des Angebots und ist auf der Suche nach guten Artikeln. Wir haben noch kein Produkt so aus der Hand gerissen bekommen wie unsere vegetarischen Schinken Spicker.

Bredack: Im Moment listet der Handel alles, was ihm an vegetarischen und veganen Produkten angeboten wird. Allerdings ist die Qualität zum Teil furchtbar.

Das bedeutet, der Handel listet aktuell ungeprüft alles, was er an vegetarischen und veganen Produkten bekommen kann?
Bredack: Ja, das kann ich bestätigen, geprüft wird nicht.

S. Ladage: Wir verkosten die Produkte dann selbst, wenn sie im Regal Startschwierigkeiten haben sollten. Ein guter Geschmack ist auch hier das A und O.

Bredack: Vegetarische bzw. vegane Produkte müssen in erster Linie gut riechen und schmecken, aber sehr wichtig sind zudem die Haptik und Konsistenz. Ich würde im Übrigen immer raten, das Thema vegetarisch zu überspringen, denn das ist in „vegan“ mit einbezogen.

Röben: Wir fangen immer erst beim Kriterium Geschmack an. Unsere vegetarischen Schinken Spicker sind nach ca. drei Jahren Entwicklung seit Ende 2014 auf dem Markt. Erst musste der Geschmack perfekt sein. Im nächsten Schritt arbeiten wir aktuell an der optimalen veganen Rezeptur.


Welche Produkte laufen in Ihren Märkten besonders erfolgreich?
Bredack: Unsere stärksten Warengruppen sind zunächst Milch- und Käseersatz, gefolgt von Fleisch- und Wurstersatz. Auf dritter Position folgen bereits Süßwaren.

Röthemeier: Ich musste unlängst staunen: Wir haben einen kleinen Markt auf dem platten Land nach dem Umbau wieder eröffnet und das, was wir als allererstes nachfüllen mussten, war Soja-Milch. Fleisch- und Wurstersatzprodukte laufen in unseren Märkten allerdings nicht so erfolgreich.

Wo herrscht Ihrer Beobachtung nach der größte Bedarf an Sortimentserweiterungen im fleischfreien Segment?
K. Ladage: Ganz klar bei Fertigprodukten. Wir brauchen mehr qualitativ gute Convenience-Artikel.

Röthemeier: Vegane Pizza fehlt.
Bredack: Mein Wunsch an die Industrie: Arbeitet an gutem Käse-Ersatz! Käse hat so viele Eigenschaften, er muss schmelzen, Fäden ziehen etc. Je nachdem, ob das Produkt für Raclette, Fondue, aufs Brot oder auf Pizza eingesetzt werden soll, benötigt man derzeit jeweils ein anderes. Käse-Ersatz, der ohne E-Nummern auskommt, gibt es nur sehr wenig.

Welche Zusatzkriterien sind bei vegetarischen bzw. veganen Produkten relevant?
Bredack: Vegan ist nicht zwingend gleichzeitig gesund. Viele Produkte beinhalten zu viele Gewürze, Zucker, Hefe etc. Wir zählen sehr viele Allergiker zu unseren Kunden. Kriterien wie „frei von Allergenen“ und „frei von Zusatzstoffen“ sind daher von großer Bedeutung.

Röben: Der Verzicht auf Gluten, Geschmacksverstärker etc. ist sehr wichtig. Die Zielgruppe ist sehr interessiert, schaut genau hin, das haben wir ganz schnell festgestellt. Wir haben sehr schnell reagiert und nach Anfragen, woher die in unseren Produkten verwendeten Eier stammen, komplett auf Eier aus Freilandhaltung umgestellt.

K. Ladage: Was man gerade bei Soja-Produkten nicht unterschätzen darf, ist das Thema Gentechnik! Die Mehrheit der Bundesbürger lehnt Gentechnik bekanntermaßen ab, ‚ohne Gentechnik‘ ist daher ein wichtiges Argument.

Kommen wir zum Thema Preisstellung: Dürfen die Produkte mehr kosten?
K. Ladage: Vegetarische und vegane Produkte müssen für alle erschwinglich sein, das Angebot im Handel also auch den Preiseinstieg umfassen.

Röben: Wir sind der Meinung: Wenn die Produkte ungefähr zu gleichen Preisen angeboten werden wie die fleischigen, funktionieren sie. Unser vegetarischer Schinken Spicker liegt daher exakt auf dem gleichen preislichen Niveau wie das Original mit Fleisch.

S. Ladage: Es darf durchaus Qualitätsunterschiede geben, die sich auch über den Preis darstellen. Um Wiederholungstäter zu gewinnen, brauchen wir aber qualitativ hochwertige Produkte mit gutem Geschmack und gutem Mundgefühl. Diese besondere Qualität darf dann auch ihren Preis haben.

Bredack: Man kann ein Preispremium in dem Segment durchsetzen, das beweisen wir u. a. mit unserer Premium-Eigenmarke und vielen besonderen Importartikeln. Preispunkte sind in der Warengruppe noch nicht wirklich gesetzt. Wir verkaufen beispielsweise erfolgreich vegane Pizza zum Stückpreis von 4,99 Euro bis 8,99 Euro.

Wie sollten die Produkte im Handel platziert werden? Im eigenen Regal oder zugeordnet in den Produktgruppen?
Röthemeier: Die Präsentation im eigenen Block ist sinnvoll.

Bredack: Wir arbeiten mittlerweile mit einer Reihe von Handelsketten als Lieferant zusammen und übernehmen dabei vor allem die Gestaltung des Sortiments, ersparen dem Handel also viel im Category Management. Vegetarische und vegane Produkte müssen im Block präsentiert werden, um Kompetenz zu zeigen. Unsere Empfehlung ist aus der Erfahrung heraus dabei jedoch ganz klar: Vegane Produkte müssen getrennt von vegetarischen Artikeln präsentiert werden, also zwei Sektionen geschaffen werden. Perspektivisch wird es jedoch dahin gehen, dass die Zuordnung in den Sortimenten erfolgt, der Verbraucher also immer wieder vor die Wahl gestellt wird „Wurst“ oder „fleischfreie Alternative“.

Röben: In zwei bis drei Jahren wird es normal sein, vegetarische und vegane Artikel zugeordnet neben Fleisch- und Geflügelprodukten zu finden.

S. Ladage: Für das Bio-Sortiment hat die Zuordnung zum konventionellen Angebot deutliche Absatzsteigerungen gebracht. Das kann hier genauso funktionieren.


Viele Händler investieren in die Qualifikation ihrer Mitarbeiter z. B. in der Warengruppe Wein, leisten sich Sommeliers etc. Fördern Sie die Fachkompetenz Ihrer Mitarbeiter auch beim Thema spezielle Ernährungsformen?
Bredack: Die Mitarbeiter müssen zum Brennen gebracht werden. Ich fange bei den Partnern von Veganz immer erst beim Kopf an: erst bei den Verantwortlichen müssen Bewusstsein und Wertschätzung geschaffen werden. Dann gehen wir an die nächsten Stufen bis zum Azubi, lassen viel verkosten, um Vorurteile hinsichtlich des Geschmacks abzubauen.
K. Ladage: Der Ernährungsservice der Edeka Minden-Hannover bietet Fortbildungen für Marktmitarbeiter und Thekenkräfte an. Beispielsweise bilden wir Ernährungsservice-Mitarbeiter aus und schulen diese u.a. auch zum Thema vegetarische bzw. vegane Ernährung. Es wird also durchaus in die Qualifikation investiert.

Die Gründe für die bewusste Wahl eines fleischfreien Produktes sind vielfältig. Werden die Mitarbeiter auch hierauf geschult, Frau Ladage?
K. Ladage: Die Mitarbeiter müssen natürlich Bescheid wissen, mit welchen Fragen und Anliegen Kunden auf sie zukommen könnten. Ich gebe aber Herrn Bredack recht, Überzeugungsarbeit können wir bei Mitarbeitern wie Verbrauchern nur erfolgreich leisten, wenn wir über den Faktor Genuss gehen. Ein Belehren über die Gründe bringt keinen zum Brennen.

Was machen Sie in Sachen Verkaufsförderung? Ist das Sortiment im wöchentlichen Handzettel präsent?
K. Ladage : Ja, in den Handzetteln der Edeka Minden-Hannover werden vegetarische und vegane Ernährung durchaus thematisiert, mitunter sogar ganzseitig. Der Ernährungsservice schreibt hierzu Artikel, zudem stellen wir Produkte vor. In KW 4 beispielsweise geben wir zum Jahresmotto „Bewusster Genuss“ Ernährungstipps, jedoch auch hier stets ohne erhobenen Zeigefinger.

Röthemeier: Heute wird im Lebensmittelhandel viel in gastronomische Konzepte investiert. Ich sehe jedoch noch wenig vegane Angebote, vor allem abseits der großen Städte. Ich frage mich, ob wir hier nicht zu langsam auf die Entwicklung reagieren?

Bredack: Der Foodservice hat sehr viel dynamischere Wachstumsraten als der Einzelhandel. Sogar Starbucks hat mittlerweile vegane Speisen. Die in den Veganz-Läden integrierten Bistros laufen sehr erfolgreich. Ich kann Sie daher nur ermutigen: Integrieren Sie vegetarische und vegane Angebote in Ihr Gastro-Angebot! Pizza mit veganem Käse ist z. B. der Hit!

Röthemeier: Zudem kann man über solche Angebote Kunden sicher auch dazu bringen, die einzelnen Produkte wie veganer Käse im Laden zu kaufen.

Bredack: Richtig, das lässt sich ideal verbinden.

K. Ladage: Auch eventuelle Abschriften neuer Produkte können so reduziert werden.

Bilderklärung
Über das vegetarisch-vegane Sortiment diskutierten (v. l.) die selbstständigen Edeka-Händler Stefan Ladage und Horst Röthemeier sowie Kerstin Ladage, Leiterin Ernährungsservice der Edeka Minden-Hannover, Jan Bredack (2. v. r.), Gründer und Geschäftsführer von Veganz, und Godo Röben (r.), Geschäftsleiter Marketing, Forschung & Entwicklung der Rügenwalder Mühle, gemeinsam mit LP-Redakteurin Bettina Röttig und LP-Chefredakteur Reiner Mihr.

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vegetarischen Artikeln präsentiert werden, also zwei Sektionen
geschaffen werden. Jan Bredack
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durchaus Qualitäts-Unterschiede geben, die sich
auch über den Preis darstellen. Stefan Ladage
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vegane Artikel zugeordnet neben Fleisch- und Geflügelprodukten zu finden. Godo Röben
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ehe ich jedoch kaum vegane Angebote außerhalb großer Städte. Reagieren wir zu langsam? Horst Röthemeier
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Verbrauchern nur erfolgreich leisten, wenn wir über den
Faktor Genuss gehen. Kerstin Ladage