Stevia Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Die in den Medien bejubelte „Wundersüße“ Stevia weckt Hoffnungen bei Verbrauchern, Herstellern und Handel. Aber sie polarisiert gleichzeitig. Einige Hersteller preschen vor, andere warten erst einmal ab.

Mittwoch, 22. Februar 2012 - Sortimente
Dieter Druck
Artikelbild Zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Gesundheit im Fokus.
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Die mythische Phase ist mit der EU-weiten Zulassung vorbei. Der mediale Sturm wird bald abebben. Das aus Stevia gewonnene Steviolglykosid – E-Nummer 960 – ist heute eine süßende Zutat. Und zwar eine mit Potenzial, da ist sich die Lebensmittel- branche sicher. Schließlich soll die Süße gleich eine ganze Reihe positiver Eigenschaften mitbringen: eine bis zu 300-fache Süßkraft von Zucker, zudem gilt sie als kalorienfrei und nicht kariogen.

Noch ist jedoch schwer abschätzbar, ob das Ganze überbewertet wird. „Ich halte die ganze Aufregung zu Stevia für überzogen“, sagt Ernährungsexpertin Dagmar von Cramm. Typisch für alle Diätprodukte, knüpften die Verbraucher an Stevia viele Hoffnungen. Vor allem jedoch birgt die Verwendung von Steviolglykosiden ihre Tücken für die Produktentwicklung. So nimmt die Mehrheit der Lebensmittelhersteller noch immer eine abwartende Position ein. Wenige preschen derzeit vor (z.B. Haribo, Zentis, Kalfany), um möglichst frühzeitig Impulse in den jew eiligen Warengruppen zu setzen.

Das Potenzial für Stevia sei insbesondere dort zu finden, wo künstliche Süßstoffe durch Einsatz der Stevia-Süße aus pflanzlicher Quelle ersetzt werden sollen. „Die Nachfrage nach solchen Produkten ist groß und wird weiter steigen“, sagt Matthias Meyer, Manager Marketing & Sales Stevia bei NP Sweet, einem Joint Venture zwischen Nordzucker und PureCicle, nach eigenen Angaben der weltweit führende Anbieter hochreiner Stevia-Produkte.

Vielversprechend
Insbesondere im Segment der alkoholfreien Getränke wird ein schneller Durchbruch für Stevia erwartet. Innerhalb dieser Produktgruppe gibt es nicht nur eine große Nachfrage nach kalorienreduzierten Artikeln. Sondern hier ist auch der Entwicklungsaufwand geringer als bei anderen Lebensmitteln, die beispielsweise auf die volumengebende Eigenschaft von Zucker angewiesen sind. Aber auch bei Fruchtaufstrichen, Bonbons, Joghurt sowie Milchgetränken und Schokoladen werde es kurzfristig neue Produkte auf dem europäischen Markt geben, sagt Meyer. Ebenso liebäugeln Bio-Produzenten mit Stevia.

Wo sich Volumina entwickeln, ist die Handelsmarke nicht weit. Auch hier erwarten Branchenbeobachter die „schnelle Folge“. „Generell beschäftigen auch wir uns mit den Möglichkeiten, die eine Verwendung von Stevia als Süßungsmittel bei Eigenmarkenprodukten bietet“, verlautet aus der Edeka-Zentrale. Entscheidend für die Qualitätsansprüche sei dabei jedoch nicht die einzelne Zutat, sondern eine in sich stimmige Gesamtheit der Rezeptur.

In Japan und anderen asiatischen Ländern, wo Stevia bereits seit mehr als 25 Jahren in der Lebensmittelproduktion eingesetzt wird, hat sie laut Meyer einen Anteil von rund 40 Prozent bei den Süßungsmitteln. In den USA hat sich der Anteil von neuen mit Stevia gesüßten Produkten im vergangenen Jahr innerhalb von zwölf Monaten verdoppelt. Hier ist auch die derzeit höchste Dynamik im Markt zu registrieren. Laut Innova Market Insights entfielen zwischen 2009 und Oktober 2011 von den global eingeführten Stevia-Produkten knapp 55 Prozent auf die USA. Japan und Korea folgen mit Abstand.

Grenzwertige Angaben
Im Vordergrund der Produktauslobung steht klar der Aspekt „kalorienreduziert“. Aber auch die „pflanzliche Basis“ wird herausgestellt und steht im Einklang zu den vielfältigen Ansätzen, die die Lebensmittelproduzenten unter „Clean Label“ zusammenfassen. Rund 36 Prozent aller Produktneuheiten, die im genannten Zeitraum weltweit auf den Markt kamen, wurden nach Analyse von Innova als „natürlich“ positioniert. Doch in Sachen Kommunikation ist Vorsicht geboten. Da das Stevia-Blatt nicht in seiner Ursprungsform angeboten, sondern das gewonnene Stevia-Extrakt verarbeitet werde, dürften Süßstoffe auf Basis von Steviolglykosiden nicht als „natürlich“ bezeichnet werden, betont Bastian Lamers, Marketing Director Europe Heartland Sweeteners.

Ein Blick auf die Herstellung zeigt: So natürlich die Basis sein mag, am Ende steht ein Produkt mit hohem Verarbeitungsgrad. „Steviolglykoside werden durch ein chemisches Verfahren hergestellt mit Einsatz von Aluminiumsalzen als Fällungsmittel, synthetische Ionenaustauscher und Absorberharze und Alkohole als Elutionsmittel sowie zum Auskristallisieren. Speziell beim Kristallisieren als letztem Reinigungsschritt wird je nach Verfahren u. a. auch Methanol eingesetzt“, erläutert Stevia-Experte Dr. Udo Kienle, Universität Hohenheim.

In der Schweiz wurden Claims wie „mit natürlicher Süße“, „natürlich gesüßt“, „gesüßt mit dem Naturprodukt Stevia“ für Produkte mit Steviolglykosiden bereits untersagt, da sie nicht den gesetzlichen Anforderungen entsprächen. „’Natürlich’ steht für ’von Natur aus’ oder ’naturbelassen’“, heißt es in einem Informationsschreiben des Bundesamts für Gesundheit BAG vom 8. Oktober 2010. Solche Anpreisungen seien als täuschend anzusehen. Der BLL teilt diese Ansicht und warnt ebenfalls davor, „natürliche“ Werbeaussagen in die Kommunikation einzubinden, erklärt Dr. Julia Gelbert. Ebenso wie die Aussage „ohne künstliche Süßstoffe“.

Für weitere Unsicherheit sorgt vor allem die von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) als unbedenklich erklärte tägliche Aufnahmemenge ADI (Acceptable Daily Intake). Als Basis für die Empfehlung diente der EFSA eine nahezu 20 Jahre alte Studie aus Japan, kritisiert Kienle. „Und die geben keinen höheren ADI-Wert als 0 bis 4 mg Stevioläquivalente pro kg Körpergewicht an. Der Europäischen Lebensmittelbehörde und der Europäischen Kommission sind hier aufgrund der Rechtslage die Hände gebunden. Es muss nochmals eine Langzeitstudie an Ratten durchgeführt werden mit einer deutlich gesteigerten Dosierung, so dass ein aussagekräftiger ADI-Wert ermittelt werden kann, der unseren Ernährungsgewohnheiten entspricht“, fordert Kienle. Bis dahin müssen Getränke- und Lebensmittelhersteller mit dem aktuellen Grenzwert leben und ihn gewährleisten.

Eine weitere Herausforderung für Produktentwickler ist der Lakritz-Beigeschmack des Süßstoffs, der die einsetzbare Menge begrenzt. „Die meisten Hersteller von Erfrischungsgetränken ersetzen nicht mehr als 30 Prozent der Süßung durch Stevia. Der Rest kommt weiterhin von Zucker oder anderen Süßungsmitteln. Da stellt sich natürlich die Frage, wie groß der Mehrwert für die Verbraucher ist und ob es sich hier nicht eher um einen einfachen Marketing-Gag handelt“, sagt der Geschäftsführer eines führenden Herstellers in der AfG-Branche.

Hier ist die Aromenindustrie gefragt. Es sei wichtig, Produkte „maßzuschneidern“, damit ein optimales sensorisches Ergebnis erzielt werde, betont Matthias Saß aus dem Bereich Forschung und Entwicklung des Aromenproduzenten Wild. Dazu Kienle: „Meiner Meinung nach geht das so lange gut, bis der Verbraucher dieses Spiel durchschaut hat. Solche Hilfsgriffe mögen lebensmitteltechnologisch machbar sein, der Verbraucher hat dazu aber möglicherweise eine ganz andere Meinung.“

Und er hat akuten Informationsbedarf. So erhalten die Ernährungsservice-Mitarbeiter der Edeka Südwest seit Einführung der ersten Produkte Kundenanfragen zum Einsatz von Stevia, zu den Vorteilen und vor allem zu Unterschieden gegenüber anderen Süßungsmitteln, erklärt Gabriele Voigt-Gempp. Die Ernährungsexpertin hat erste Rezepte mit Stevia entwickelt und die rund 800 Ernährungsservice-Mitarbeiter mit dem Thema vertraut gemacht.

\\ Weitere Informationen zum Thema Stevia finden Sie online unter www.lebensmittelpraxis.de/sortiment

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