Bewusste Ernährung Die Plus-Minus-Liste

Immer mehr Verbraucher wählen Lebensmittel danach aus, was nicht drin stecken soll. Auf der anderen Seite sind alternative Werte gefragt. Die Vielzahl an Ernährungsgewohnheiten ist zu einer Herausforderung für Handel und Hersteller geworden. Welche Trends den Markt bestimmen.

Donnerstag, 26. Januar 2017 - Sortimente
Bettina Röttig
Artikelbild Die Plus-Minus-Liste
Bildquelle: Soulfood Low-Carberia

Zucker, Salz, Fett, Kohlenhydrate, Cholesterin. Für viele Bundesbürger steht über dieser Auflistung ein dickes Minus für Verzicht. Auf der Plus-Seite gegenüber stehen Punkte wie regionale Herkunft, Bio, Fairness, Proteine. Die Liste der Kriterien, nach denen Verbraucher heute ihre Lebensmittel auswählen, lässt sich noch um ein Vielfaches verlängern und zu unendlich vielen individuellen Ernährungsideologien kombinieren. Für Handels- und Industriekonzerne eine Herausforderung, denn die breite Masse als Zielgruppe gibt es nicht mehr. Markenartikler scheinen zunehmend auf Produkte zu setzen, die sich für mehrere Ernährungsideologien und damit Zielgruppen gleichzeitig eignen, während Lebensmittelhändler stärker auf die Jagd gehen nach neuen Lieferanten, um den veränderten Bedürfnissen ihrer Kunden schnell nachkommen zu können und sich mit individuellen Angeboten zu profilieren.

Gerade einmal 10 Prozent der Bundesbürger achten in Bezug auf ihre Ernährung auf gar nichts. Das ergab die aktuelle Studie „Bewusster Konsum“ der Nielsen Marktforschung. Selbst unter den 48 Prozent der Befragten, die sich selbst als „Alles Esser“ bezeichneten, setzt der Großteil auf eine persönliche Plus-Minus-Liste. Für die eigene Ideologie wird aktiv recherchiert: Ein Drittel der Konsumenten investiert im Schnitt ein bis vier Stunden pro Woche für die Informationssuche zu Lebensmitteln. Fast die Hälfte urteilt nach dem Motto „je kürzer die Liste der Inhaltsstoffe, desto gesünder“. Die Sorge um die eigene Gesundheit und das wachsende Bewusstsein, dass ein Zusammenhang von Gesundheit und Ernährung besteht, ist auch der Hauptgrund für die alternativen Ernährungsgewohnheiten, erklärt Nielsen-Expertin Anne-Kathrin Haubert.

Bio-Fach

Vom 15. bis 18. Februar präsentieren rund 2.500 Aussteller die Innovationskraft der Bio-Branche in Nürnberg. 21 Start-ups versammeln sich am Stand für „Deutsche Newcomer“ in Hallo 9, die Erlebniswelt Vegan ist in Halle 6 zu finden, die Erlebniswelt Gastronomie in Halle 7.

Davon profitiert z. B. der Markt für glutenfreie Produkte. Zwar geben nur 4 Prozent der Verbraucher an, zu diesen Produkten zu greifen, gemessen an der Zahl der Zöliakie-Betroffenen (diagnostiziert: rd. 80.000; Schätzungen gehen von 1 Prozent der Bevölkerung aus) ist dies jedoch ein Erfolg für das Sortiment. Der Gesamtmarkt für glutenfreie Produkte habe sich in den letzten Jahren rasant entwickelt und zweistellige Zuwachsraten erzielt, sagt Matthias Müller-Thederan, Vertriebsleiter für Europa Mitte bei Dr. Schär Deutschland. Viele der 120 Produkte der Marke Schär sind zudem laktosefrei, sprechen somit eine breitere Kundschaft an.

Weniger Kohlenhydrate
Kein neuer, aber ein Trend, den die großen Industrie-Unternehmen hierzulande noch nicht für sich entdeckt haben, ist Low Carb, also Produkte mit einem geringen Gehalt an Kohlenhydraten. Rund 20 Prozent der Verbraucher achten laut Nielsen-Studie auf das Vermarktungsargument. „Low Carb ist eines der dynamischsten Sortimente aktuell im LEH“, sagt Rewe-Kaufmann Pascal Kneuer. Noch gebe es keinen großen Player, der mit einem überzeugenden Konzept auf den Zug aufgesprungen sei. Das Potenzial werde sich noch einige Jahre steigern, jedoch nicht die gleichen Umsätze wie Bio- oder Regional-Produkte erzielen, prognostiziert er. Seit 2014 setzt Kneuer in seinem Rewe-Markt in Nürnberg-Boxdorf auf das kohlenhydratarme Sortiment des Nürnberger Anbieters Soulfood Low-Carberia, um entsprechende Kundenanfragen zu bedienen. Die Produkte enthalten weder Getreide noch herkömmlichen Zucker und haben einen niedrigen Kohlenhydratanteil. Seit Kurzem sind die Müslis, Marmeladen, Mehle, Backmischungen und Snacks in der Rewe-Streckenlistung für Süddeutschland aufgeführt, zudem gibt es die Produkte bereits in einigen Edeka-Märkten in Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen, sagt die Gründerin Jasmin Mengele.

Auch Reweaner Alexander Kersten bezieht die Produkte und baut das Angebot rasch aus. „Low-Carb-Produkte haben meiner Meinung nach noch ein Riesenpotenzial im deutschen Markt und werden langfristig einen festen Platz im Handel einnehmen“, meint Kersten. Junge, ernährungsbewusste Menschen bis ca. 50 Jahre macht der Rewe-Kaufmann als Zielgruppe aus. In seinem Markt in Fürstenfeldbruck bietet er seit Sommer 2016 Produkte des aus dem TV bekannten Fitness-Programms Body-Change an – als erster stationärer Lebensmittelhändler hierzulande. Die herzhaften Produkte wie Nudeln auf Basis von Hülsenfrüchten, Fertiggerichte im Glas sowie Snacks des Programms kommen bei den Kunden gut an. Ergänzend finden Verbraucher süße Brotaufstriche und Backmischungen der Soulfood Low-Carberia sowie Riegel von Atkins im Low-Carb-Block. Eine Kooperation mit einem Fitness-Studio, Verkostungsaktionen und Social-Media-Kampagnen brachten in den vergangenen Monaten neue Kunden für das Sortiment. Ab Februar/März räumt Kersten Low-Carb-Produkten doppelt so viel Platz ein wie bisher. Zwischen regionalen, Bio- und Veggie-Produkten präsentiert er diese dann im 2-m-Block prominent vor dem Thekengürtel. Hinzukommen sollen z. B. Cupcakes und andere süße Backwaren des Start-up-Unternehmens Foodpunk aus München.


Alternativen für Pizza und Pasta
Low-Carb-Alternativen zu klassischen Nudeln aus Hartweizen sind ein neu entdecktes Feld für Handel und Industrie. Pasta aus Hülsenfrüchten beispielsweise bietet die Rewe seit Kurzem unter der Eigenmarke Rewe Bio. Die Nudeln aus Erbsen- und Linsenmehl sind kohlenhydratarm, glutenfrei und noch dazu vegan. Sie benötigen nur die Hälfte der Kochzeit herkömmlicher Pasta. Vegafit, Hersteller von veganen Fleisch-Alternativen, hat verschiedene Sorten Soja-Nudeln in den Handel gebracht. Hergestellt aus 100 Prozent Bio-Soja, enthalten die vier Sorten (Spaghetti, Spätzle, Bandnudeln, grüne Bandnudeln) 43 Prozent Sojaprotein, und rund 80 Prozent weniger Kohlenhydrate als herkömmliche Nudeln aus Weizen.

Großbäcker Mestemacher will beim Verbraucher mit einem größeren Angebot an Eiweißbroten punkten. Dem bereits etablierten Eiweißbrot, das mit rund 82 Prozent weniger Kohlenhydraten als ein herkömmliches Vollkornbrot auskommt, haben die Gütersloher zwei neue Varianten an die Seite gestellt, die über die Verpackung aufmerksamkeitsstark mit dem Argument „Low Carb“ werben: Das Eiweißbrot mit 5 Prozent Karotten bringt 65 Prozent weniger Kohlenhydrate mit, die Variante „mit 5 Prozent Walnüssen“ 61 Prozent weniger als ein herkömmliches Vollkornbrot.

Eine neue Lösung für Pizza-Liebhaber, die weniger Kohlenhydrate zu sich nehmen wollen, ist Lizza. Bekannt wurde das Start-up durch die Vox-Sendung Höhle der Löwen. Lizza ist ein neuartiger Teig aus Leinsamen und Chiasamen: Low Carb, glutenfrei, vegan und bio. Er eignet sich für Pizza, Flammkuchen, mit Aufstrich zum Frühstück oder herzhaft als Snack. Seit September 2016 hat es das Unternehmen mit seinen Investoren geschafft, Lizza in rund 2.000 Märkten in die Regale zu bringen, u. a. bei Globus, Real, Edeka und Rewe.

Bedeutender als Low Carb ist für Rewe-Kaufmann Alexander Kersten aktuell nur noch der anhaltende Regional-Trend. Rund drei Viertel der Bundesbürger greifen zu regionaler Ware, zeigt auch der aktuelle Ernährungsreport des Bundeslandwirtschaftsministeriums. „Regional ist für meine Kunden wichtiger als Bio, da sie einen engeren Bezug zu den Waren haben“, sagt Kersten. Insbesondere frisches Gemüse aus der Region wird von den Kunden verlangt. In diesem Jahr will Kersten das Angebot von lokalen Herstellern erweitern und ist aktiv auf der Suche nach Lieferanten aus dem Landkreis, die noch nicht im Lebensmittelhandel zu finden sind.

Diesen Weg geht auch Kollege Kneuer: „In Nürnberg sind Produkte z. B. aus München in der Kundenwahrnehmung nicht mehr ,regional‘. Wir versuchen, das Bedürfnis nach heimischen Angeboten mit Produkten von möglichst vielen kleinen bis mittelständischen Unternehmen zu erfüllen, die in unmittelbarer Umgebung des Marktes produzieren.“ Darüber hinaus setzt Kneuer auf den Trend zu Fleischfreiem. „Vegetarisch wird aktuell vom Trend vegan überflügelt“, beobachtet er. Viele Kunden, die sich vegetarisch ernähren, suchten gezielt nach veganen Produkten. Nach Einschätzung von Rewe-Kollege Kersten werden die dynamischen Wachstumsraten der vergangenen Jahre im vegetarisch-veganen Sortiment jedoch nicht mehr zu toppen sein. „Die Produkte werden sich meiner Meinung nach weiter etablieren, aber nicht in der Masse.“

Umsatz mit Veggie

Die Hamburger geben laut Nielsen am meisten für vegetarische Produkte aus (pro Kopf in einem Jahr 9,91 Euro; MAT KW 48/2016). In Chemnitz waren die Pro-Kopf-Ausgaben mit 4,59 Euro zwar gering, steigerten sich aber im Vergleich zum Vorjahr um 33 Prozent.

Vegan im Fokus
Dennoch können Händler auf ein wachsendes Angebot der Markenartikelindustrie zugreifen. So hat beispielsweise Veganz, Spezialist für vegane Lebensmittel, angekündigt, sein Produkt-Portfolio bis Ende 2017 von 150 auf 300 Artikel zu verdoppeln. Mit neuen Snacks, Eiscreme und Milchersatz z. B. auf Basis von Reis, will die Marke weitere Regalflächen erobern. Große Chancen für das vegane Sortiment sieht Veganz-Chef Jan Bredack insbesondere im TK-Bereich, für Convenience to go sowie in der Verbindung mit dem Clean-Eating-Trend. Pflanzlich ohne Zusatzstoffe sei auch künftig der Weg von Veganz, zudem erhalten Kriterien wie palmölfrei und sojafrei mehr Gewicht bei der Produktentwicklung.

Beim Mopro-Ersatz tut sich einiges. Unter der Marke Allos, bekannt für Müslis und Fruchtaufstriche, gibt es sechs neue Sorten pflanzlich basierter Drinks in Bio-Qualität in den Sorten Hafer, Reis, Reis-Kokos, Mandel, Soja und Dinkel-Drink. Die Hochland-Tochter E.V.A. hat angekündigt, im Frühjahr einen veganen Schmelzgenuss, eine Reibekäse-Alternative auf Mandelbasis, auf den Markt zu bringen. Dr. Oetker erweitert mit einer veganen Variante der Crème Fraîche auf Soja-Basis sein vegetarisch-veganes Sortiment. Creme Vega von Dr. Oetker eignet sich zum Kochen und Verfeinern veganer Gerichte und gerinnt auch bei hohen Temperaturen nicht.

Rila Feinkost Importe setzt ebenfalls verstärkt auf Käufer vegetarisch-veganer Produkte. Aktuell sind rund 75 Prozent des Sortiments der Marke Rinatura Bio bereits vegan. Zur Biofach präsentiert die Marke weitere vegane Neuheiten, darunter Porridge, Veggie-Bratlinge mit Lupinen und Quinoa, Risotto, Smoothies und neue Brotaufstriche. Die vier Sorten Veggie-Cremes beispielsweise sind nicht nur vegan, sondern auch frei von Laktose, Gluten, Hefe und Palmöl.


Interview mit Anne-Kathrin Haubert: Bewusste Esser?

Warum wollen sich immer mehr Menschen „anders“ Food-Studieernähren? Eine Studie sucht Antworten.

Die Nielsen-Company untersucht in ihrer  „Bewusste Esser“ gezielt die Motive der Verbraucher. Fragen an Nielsen-Beraterin Anne-Kathrin Haubert.

Konsumenten sind aktuell sehr kritisch gegenüber Lebensmitteln. Woher kommt das?
Anne-Kathrin Haubert: Vom Konsumenten wird in Bezug auf seinen Konsum Eigenverantwortung und vorausschauendes Handeln erwartet. Die Skepsis resultiert aus der Sorge, die falschen Entscheidungen zu treffen. Aus gemeinschaftlichen Kategorien sind individuelle Überzeugungen geworden. Die vermeintlichen Risiken rund um den Konsum sind dabei heute nicht mehr nur persönlicher Natur.

Da kommt schnell die Moral ins Spiel.
Für die meisten Konsumenten müssen Lebensmittel heute nicht nur gut schmecken, sondern sie müssen auch Werten Stand halten – ethisch und moralisch korrekt sein. Wie tief die Eigenverantwortung in der Gesellschaft verwurzelt ist, sieht man daran, dass gerade einmal nur 10 Prozent alles essen und bei der Auswahl ihrer Lebensmittel auf gar nichts achten.

Was folgt daraus?
Permanent alle Risiken für mögliche Fehltritte zu überschauen ist unmöglich. Im Stimmgewirr aus immer neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen oder Lebensmittelskandalen und der schnellen Abfolge ihrer Verbreitung fokussieren sich die Verbraucher darauf, die für sie persönlich am höchsten eingestuften Risiken zu minimieren. Das Ergebnis der individuellen Auseinandersetzung sieht man in der Vielzahl an verschiedensten Ernährungsstilen.

Welche Risiken sehen Verbraucher aktuell?
Eine der größten Sorgen der Deutschen und der Hauptgrund, sich für eine alternative Ernährungsweise zu entscheiden, ist die eigene Gesundheit. Ausschlaggebend ist das steigende Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen Gesundheit und Ernährung. In diesem Kontext sehen die Deutschen in der industriellen Lebensmittelproduktion ein Risiko – jeder Dritte hält sie für sehr ungesund. Nur 6 Prozent der Konsumenten halten die deutschen Lebensmittelhersteller für absolut vertrauenswürdig. Der Handel schneidet mit 18 Prozent Zustimmung etwas besser ab.

Was ist dem Handel und der Lebensmittelindustrie zu raten?
Die Konsumenten wollen authentische Konzepte und Produkte. Für Produkte gilt, je näher am ursprünglichen Rohstoff, desto ehrlicher. Jeder Zweite verlässt sich dabei auf die Länge der Inhaltsstoffliste, nach dem Motto, je kürzer die Zutatenliste, desto gesünder das Produkt. 37 Prozent der Konsumenten halten regionale Produkte für absolut glaubwürdig – bei „Bio“ sind es 16. Saisonalitäten rücken in den Fokus und sind ein wichtiger Indikator.