HIT 2021 10 Thesen zur Welt der Lebensmittel nach Corona

Die zweite Hit-Befragung der Handelsentscheider zu neuen Produkten in Corona-Zeiten. Anders als vor einem Jahr scheint ein Ende der Pandemie möglich. Das schafft zusätzliche Chancen für die Hits 2022. Aber es ist zu vermuten, dass nichts so wird, wie es war. Handel ist nun mal Wandel. Zehn Thesen zur Zeit nach Corona.

Mittwoch, 09. Juni 2021 - HIT Produkte 2021
Reiner Mihr
Artikelbild 10 Thesen zur Welt der Lebensmittel nach Corona
Bildquelle: Santiago Engelhardt

Der Lebensmittelhandel spielt in dieser Zeit der Corona-Pandemie eine ganz besondere Rolle. Er hat es – nach anfänglichen Schwierigkeiten (wer erinnert sich noch an den Run auf Klopapier und Hefe?) – geschafft, die Versorgung der Bevölkerung reibungslos zu sichern. Chapeau! Er hat natürlich auch ganz gut daran verdient. Doch was geschieht, wenn wieder „normale“ Zeiten einkehren? Wenn also das gesellschaftliche Leben wieder in einer neuen Normalität einsetzt?

Die Lebensmittel Praxis hat Fred Hogen, den Market Leader DACH vom Marktforschungsunternehmen „NielsenIQ“ mit zehn Thesen zur Zukunft der Lebensmittelwelt nach Corona konfrontiert. Hier seine Reaktionen:

These 1
Der Lebensmittelhandel als einer der „Gewinner“ der Corona-Krise wird wieder auf Normalmaß zurückfallen
Nein, nicht unbedingt. Wir meinen, dass der Lebensmittelhandel auch langfristig profitieren wird und das Wachstum aus 2020 zumindest teilweise wird halten können. Die Entwicklungen im vergangenen Jahr basierten im Wesentlichen auf zwei wichtigen Treibern: Zum einen auf der langen Schließung der Gastronomie, die zu einem kompletten Wegfall des Außer-Haus-Verzehrs führte. Zum anderen begann ein Großteil der Verbraucher in Deutschland von zu Hause aus zu arbeiten. Der Schwerpunkt unseres täglichen Lebens verlagerte sich so in die eigenen vier Wände. Während die Gastronomie nun glücklicherweise sukzessive wieder öffnet, wird sich unser Arbeitsalltag aber wohl teilweise weiter zu Hause abspielen. Damit verbunden bleiben auch die Einkäufe für „die Zeit zu Hause“ in ihrer Häufigkeit und in ihrem Umfang weiter hoch.

These 2
Der Vollsortimenter setzt immer mehr auf Eigenproduktion und Eigenmarken
Ein klares „Ja“. Die Vollsortimenter verstärken ihre Bemühungen, im Bereich der Eigenmarken ihr Angebot zu differenzieren. Und das mit Erfolg. Das liegt unter anderem daran, dass Markenhersteller in den Jahresgesprächen zunehmend unter Druck gesetzt werden, vor allem in Bezug auf die Preise, und es teilweise zu Auslistungen kommt. Entsprechende Lücken werden dann mit anderen Marken oder aber Eigenmarken gefüllt. Zudem wird das Erscheinungsbild der Handelsmarken immer hochwertiger und die Qualität immer häufiger als mit Marken vergleichbar angesehen. Der Handel stellt sich durch Investitionen und Innovationen in die Eigenmarkensegmente sowie durch die Listung von Start-ups und Exklusivmarken immer stärker gegenüber den Produkten der Industrie auf.

These 3
Discounter werden immer attraktiver für Marken
Das ist richtig. Vor allem der Hard-Discount versucht, sich in den letzten Jahren immer stärker durch Einlistung und Promotion von Marken sowie aggressiven Preisaktionen zu profilieren. Eine Entwicklung hin in Richtung Vollsortimenter ist schon seit einigen Jahren zu beobachten, damals initiiert von Lidl. Aldi zieht immer mehr nach. Marken sehen in Discountern vermehrt einen attraktiven Absatzkanal. Das gilt auch für Premiummarken. Die „Sorge“ bei einer Listung im Discount die Anmutung einer „Billigmarke“ zu wecken, ist über die Jahre deutlich kleiner geworden.

These 4
Die flächendeckende Versorgung mit vollsortierten Supermärkten geht auch in Deutschland dem Ende zu
Nein, nicht in näherer Zukunft. Die Pandemie hat die Stärken der großen Vollversorger-Supermärkte und -Verbrauchermärkte noch einmal unterstrichen: das Angebot des „One-Stop-Shoppings“. Von den wichtigen Einkaufskriterien Erreichbarkeit beziehungsweise Nähe und einem breiten Sortiment haben die Supermärkte und Verbrauchermärkte profitiert. FMCG-Online-belieferungen haben sich gerade im ländlichen Raum noch nicht ansatzweise etabliert. Und gerade hier – also im ländlichen Raum – erfüllen die Supermärkte mit einem Nonfood-Basissortiment auch die Funktion nicht mehr existenter Fachmärkte, beispielsweise für Haushalts- oder Schreibwaren. Allerdings werden sich Supermärkte klar weiterentwickeln müssen, zum Beispiel in den Bereichen Digitalisierung oder beim Einsatz von künstlicher Intelligenz.

These 5
Der Preis bestimmt auch 2030 für die breite Konsumentenschicht den Lebensmitteleinkauf
Im Gegenteil. Der Preis alleine wird beim Lebensmitteleinkauf in 2030 nur noch eine nachrangige Bedeutung haben. Sogenannte „Big Trolleys“, also Großeinkäufe, gewinnen klar an Relevanz. Die Wahl einer Einkaufsstätte mit breitem und tiefem Sortiment schlägt klar die reine Fokussierung auf den günstigsten Preis. Außerdem verändert sich das Bewusstsein: Bioprodukte und Produkte mit nachhaltigen Inhaltsstoffen oder auch Verpackungsmaterialien gewinnen an Aufmerksamkeit und Umsatz. Auf diese Nachfrage nach „besseren“ und höherpreisigen Produkten reagiert auch der Einzelhandel und vergrößert das Angebot. Die Bedeutung des Preises kommt erst dann ins Spiel, wenn der Konsument zwischen vergleichbaren Sortimenten und Produkten, die seinen primären Entscheidungskriterien entsprechen, auswählen kann.

These 6
Großflächen im Lebensmitteleinzelhandel mit breitem Nonfood-Angebot verschwinden mittelfristig
Nein, davon ist mittelfristig nicht auszugehen. Gerade die Pandemie hat gezeigt, welche Stärke die Großfläche auch für Nonfood hat. Nonfood-Sortimente müssen aber an das Umfeld angepasst sein. Welche Fachgeschäfte gibt es noch in der Nähe und welche Kunden besuchen das Geschäft? Sollte das Sortiment zum Beispiel mehr Haushaltswaren und Babyzubehör bieten, da viele junge Familien im Umfeld leben, oder mehr Strickartikel für die älteren Haushalte im Einzugsgebiet? Riesige, undifferenzierte und nicht angepasste „Nonfood-Welten“ gehören tatsächlich der Vergangenheit an. Sie werden auch vor dem Hintergrund der unter Druck geratenen Flächenproduktivität immer seltener zu finden sein.

These 7
Regionalität wird als überbewertet erkannt und siedelt in einer Nische des Sortiments
Nein. Regionale Marken wachsen überproportional; sie sind oft mit der Region verbunden. Regionale Marken bei der Milch sind beispielsweise in den meisten Regionen Marktführer! In einer NielsenIQ-Studie geben 67 Prozent der Befragten an, dass ihnen Regionalität beim Einkauf wichtig ist. Aber nur „regional“ oder nur „bio“ zu sein reicht heute auch nicht mehr aus. Die Konsumenten achten zunehmend auch auf Nachhaltigkeit beim Kauf eines Produktes und schauen beispielsweise auf die Verpackung.

These 8
Besondere Ernährungsformen wie glutenfrei, laktosefrei, eiweißreich und mögliche andere werden auf ihre ernährungsphysiologische Notwendigkeit reduziert und werden zu einer Nische des Sortiments
Das ist teilweise richtig, hängt aber von der Ernährungsform ab. Eine gluten- oder laktosefreie Ernährung ist an eine Intoleranz gebunden, der Verbraucher wird in der Regel ärztlich auf die Notwendigkeit einer entsprechend angepassten Ernährung hingewiesen. Diese Ernährungsform ist tatsächlich eher „nischig“. Aktuell sind in den verschiedensten Segmenten – darunter bei Molkerei – und Convenience-Produkten – proteinreiche Produkte weiter sehr gefragt. Hier liegt eher keine ernährungsphysiologische Notwendigkeit vor, sondern der Trend zur körperlichen Fitness.

These 9
Der Lebensmittelhandel muss sich von Fleisch und weiteren tierischen Produkten als Hauptumsatzträger verabschieden, weil die Themen Tierwohl, Tierhaltung, vegetarisch und vegan neue Akzente setzen
Ja, die Bedeutung von Fleisch wird abnehmen, auch wenn Fleisch nicht gänzlich von den Tellern der Verbraucher verschwinden wird. Die Alternativen boomen klar. Vegetarische und vegane Produkte verzeichnen hohe Wachstumsraten, gleiches gilt für Produkte mit Tierwohlkennzeichen.

These 10
Das Thema Nachhaltigkeit (Klimaschutz, Arbeitsbedingungen, Lieferkette, Tierwohl) wird weiter an Bedeutung gewinnen und die Sortimente der Zukunft entscheidend beeinflussen
Absolut, das Thema Nachhaltigkeit wird weiter an Bedeutung gewinnen. Nachhaltige Angebote gehören mittlerweile „zum guten Ton“ und sind auch unter strategischen Aspekten wertvoll. Dabei werden mehr und mehr neue Konzepte entwickelt. Bei Molkereiprodukten werden Plastikdeckel eliminiert, im Bereich der Körperpflege wird vermehrt auf recycelbaren Kunststoff gesetzt. In den Regalen der Zukunft werden wir immer mehr „schlanke“ Produkte sehen, das heißt, Produkte mit weniger, leichterer oder verbesserter Verpackung.

HIT-Gewinner 2021