Containern Gegen das Wegwerfen

Zwei Studentinnen haben gegen ihre Verurteilung wegen Containerns eine Verfassungsbeschwerde eingereicht. Die Anwältin Sarah Lincoln erläutert in einem Interview die Hintergründe.

Dienstag, 17. Dezember 2019 - Hersteller
Jens Hertling
Artikelbild Gegen das Wegwerfen
Bildquelle: Getty Images

Zwei Studentinnen sind gegen ihre Verurteilung wegen Diebstahls vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Sie hatten Obst und Gemüse aus einem Supermarkt-Müllcontainer geholt. Können Sie den Fall noch einmal kurz schildern?
Sarah Lincoln: Im Juni 2018 wurden zwei Studentinnen vor einem Supermarkt in Olching bei München von zwei Polizisten beim Containern angetroffen. Sie hatten im Müll nach aussortierten Lebensmitteln, die man noch essen kann, gesucht. Nach einem Strafantrag des Supermarkts ermittelte die Staatsanwaltschaft – ,wegen besonders schweren Falls des Diebstahls‘. Zur beantragten Geldstrafe von jeweils 1.200 Euro kam es nicht. Das Amtsgericht (AG) Fürstenfeldbruck hielt den Frauen im Januar 2019 zugute, ,dass die entwendete Ware für den Eigentümer wertlos war‘. Aber die beiden wurden schuldig gesprochen und verwarnt – mit je acht Stunden Sozialarbeit bei der örtlichen Tafel. Wenn sie sich noch einmal beim Containern erwischen lassen, droht ihnen eine Strafe von 225 Euro.

Warum holen die beiden Studentinnen Lebensmittel aus dem Müll?
Weltweit wird ein Drittel aller Lebensmittel weggeworfen. Es ist deshalb eine sehr dringende Notwendigkeit, jetzt zu handeln. In Deutschland sind es 18 Millionen Tonnen jährlich. Vieles davon ist noch verwertbar. Genießbare Lebensmittel aus dem Müll zu retten, ist ein aktiver Beitrag zum Klimaschutz.

Welche Rolle spielt denn eigentlich die Staatsanwaltschaft?
Zu dem Verfahren vor dem Amtsgericht war es letztlich nur gekommen, weil die Staatsanwaltschaft ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung sah. Den Strafantrag hatte der Filialleiter des betroffenen Supermarktes nach einer Empörungswelle im Internet zurückgenommen, weswegen die Studentinnen ursprünglich auf die Einstellung des Verfahrens gehofft hatten. Daraus wurde nichts, der Staatsanwaltschaft war die Verurteilung ein besonderes Anliegen.

„Containern ist Diebstahl“, begründete das Amtsgericht Fürstenfeldbruck das Urteil. Hat Sie das überrascht?
Überrascht nicht. Trotzdem halte ich das Urteil für rechtlich falsch.
Wer Müll weiterverwertet, tut nichts Verwerfliches. Ganz im Gegenteil: Es ist in unser aller Interesse, dass wir nachhaltig mit Lebensmitteln umgehen. Der Schutz unserer Lebensgrundlagen ist im Artikel 20a im Grundgesetz verankert. Das Strafrecht muss sich auf sozialschädliches Verhalten beschränken. Das bestätigt auch das Bundesverfassungsgericht immer wieder.

Wie hat die nächste Instanz entschieden?
Anfang Oktober 2018 hat das Bayerische Oberste Landesgericht das Urteil bestätigt. Der Supermarkt habe sein Eigentum nicht aufgeben wollen. Der Müll sei nur für das Entsorgungsunternehmen bestimmt gewesen.

Wie haben denn Ihre Mandantinnen reagiert?
Für die Studentinnen war es eine Enttäuschung. Sie haben niemandem Schaden zugefügt und werden trotzdem als Diebinnen verurteilt.

Wie lautet Ihre Einschätzung des Urteils?
Wir kritisieren das Urteil als unverhältnismäßig und nicht mehr zeitgemäß. Der Staat sollte sich darauf konzentrieren, der Lebensmittelverschwendung Einhalt zu gebieten, und nicht diejenigen kriminalisieren, die entsorgte Lebensmittel weiterverwenden.

Welche Aufgaben verfolgt dabei die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF)?
Die GFF setzt sich mit strategisch geplanten Klagen und Verfassungsbeschwerden für die Grundrechte in Deutschland ein. Dabei initiiert und begleitet die GFF Grundrechtsrelevante Verfahren von grundsätzlicher Bedeutung vor Gericht.

Warum setzt sich die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) für die beiden Studentinnen ein?
Für uns hat das Verfahren grundsätzliche Bedeutung. Es geht um die Frage, wo die verfassungsrechtliche Grenze des Strafrechts ist. Besonders sozialschädlich ist ja das Wegwerfen der Lebensmittel, nicht die Verwertung. Faktisch kriminalisieren wir diejenigen, die im Kleinen etwas für den Klimaschutz tun, ohne dass jemandem geschadet wird.

Was soll mit der Verfassungsklage erreicht werden?
Erstens geht es darum, ein Grundsatzurteil zu erstreiten. Gesellschaftlich unschädliches Verhalten darf nicht bestraft werden. Zweitens soll die Verfassungsklage mehr Menschen auf das Problem der Lebensmittelverschwendung aufmerksam machen. Wir möchten einen gesellschaftlichen und politischen Diskurs zum Thema antreiben und auch dazu beitragen, dass politische Lösungen gefunden werden.

Was wäre nach Ihrer Ansicht die Lösung des Problems?
Die Ursachen der Lebensmittelverschwendung sind sehr vielfältig, deswegen müssen wir auch viele Maßnahmen ergreifen. Das beginnt bei der Landwirtschaft, erstreckt sich beim Handel und endet bei den Verbrauchern. Die Supermärkte müssten gesetzlich dazu verpflichtet werden, noch genießbare Lebensmittel an gemeinnützige Organisationen, wie die Tafel, weiterzugeben – wie es auch schon in anderen europäischen Ländern der Fall ist. Dabei reicht es nicht aus, auf freiwillige Maßnahmen zu setzen.

Die Politik könnte Regeln erlassen, damit unverkaufte Lebensmittel an karitative Organisationen weitergegeben werden müssen. Wie denken Sie darüber?
Supermärkte sollten wie in Frankreich verpflichtet werden, noch genießbare Lebensmittel zu verteilen, zum Beispiel an soziale Einrichtungen.

Die Verfassungsbeschwerde wurde eingereicht. Wie geht es weiter?
Das Verfassungsgericht prüft jetzt, ob es die Beschwerde annimmt. Wird die Beschwerde angenommen, können noch einige Jahre bis zu einer Entscheidung vergehen. Wir hoffen auf eine positive Entscheidung mit einer Signalwirkung gegen unsere ,Wegwerfgesellschaft‘ und den unverhältnismäßigen Einsatz des Strafrechts.