Gastbeitrag Perspektivwechsel

Innovative Ideen entwickeln mit dem Wachstumsdiamanten.

Freitag, 04. September 2015 - Hersteller
Prof. Dr. Franz-Rudolf Esch, Thomas Backes
Artikelbild Perspektivwechsel
Bildquelle: Shutterstock

»Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann. Mit dieser Aussage bringt der Maler Francis Picabia eine Grundvoraussetzung für das Erkennen von Trends und die Schaffung von Innovationen auf den Punkt: den Perspektivwechsel . Für Handel und Hersteller geht es dabei um einen Wechsel in die Perspektive des Kunden. Allerdings gibt es nicht die eine Perspektive des Kunden: Seine Sicht und seine Entscheidungen sind vielmehr geprägt von den Rahmenbedingungen und dem gesamten Kontext, in dem er sich bewegt. Jeder von uns kann dies an sich selbst nachvollziehen: Am Wochenende verhalten wir uns anders als in der Woche, bei Freunden wiederum anders als im Geschäftsleben usw.

Die unterschiedlichen Facetten des Kontexts der Kunden systematisiert der Wachstumsdiamant : Relevant sind dabei neben klassischen Bedürfnissen und Lebensstilen auch das soziale Umfeld der Kunden (privat und beruflich), Orte, an denen sich die Kunden aufhalten, das kulturelle Umfeld sowie der zeitliche Rahmen und die Lebensphase, in der sich die Kunden befinden. Gerade aus der kombinierten Betrachtung dieser Facetten des Wachstumsdiamanten lassen sich eine Fülle von Ideen für neue Produkte und Dienstleistungen entwickeln.

Ein Blick in das Teeregal zeigt, dass hier die Hersteller die gesamte Klaviatur der Möglichkeiten auszuschöpfen versuchen: Was das soziale Umfeld betrifft, unterscheidet sich der 5-o‘clock-tea deutlich vom Tee zum Familienpicknick oder bei einer Party Jugendlicher. Hinsichtlich des kulturellen Umfeldes weichen die chinesische und die russische Teezeremonie deutlich voneinander ab. In Taiwan, China und Südostasien ist der Bubble Tea, ein kühl servierter, mit Milch und Fruchsirup dargereichter Tee, der wie ein Milchshake zubereitet und mit dicken Strohhälme getrunken wird, der Renner. In frühen Lebensphasen ist möglicherweise Eistee beliebt, in späten Lebensphasen der Blasen- und Nierentee. Nachts der Tee zum Einschlafen, morgens der Hallo-Wach-Tee, oder auf die Jahreszeiten abgestellt der Winter-, Sommer-, Frühlings- und Herbsttee. Schließlich gibt es noch kundenspezifische und lebensstiltypische Entwicklungen wie die Silk Hachets zu absoluten Premiumprei sen oder die Design-Tees von Arizona Tea mit hochwertigen Produkten und auffälliger Verpackung ohne Konservierungsstoffe und künstliche Farbstoffe. Vom Ready to Drink-Tee bis hin zum Baden mit Tee und dem Parfait von grünem Tee ist alles möglich.

Da Kunden häufig nicht in der Lage sind zu äußern, welche Produkte und Dienstleistungen sie sich in Zukunft wünschen, gilt es dazu zunächst den „ Kunden zu erkunden “. Dazu steht das gesamte Repertoire qualitativer Forschung zur Verfügung. Betrachtet man etwa Personen zwischen 31 und 60 Jahren, so ist in dieser Lebensphase beruflich wie privat Rush Hour angesagt. Für den Lebensmittel-Einzelhandel heißt dies, dass diese Kunden (zumindest unter der Arbeitswoche) oftmals ihre Einkäufe zeitsparend und mit einem möglichst guten Ergebnis abschließen möchten. Zeitgleich möchte man sich auch beim Lebensmitteleinkauf selbst verwirklichen, indem man Produkte neben der „Massenware“ einkauft, darunter etwa vegane Nahrungsmittel, exotische Waren oder Produkte mit regionalem Ursprung.


Verknüpft man diese Analyseergebnisse auf den relevanten Dimensionen des Wachstumsdiamanten sinnvoll miteinander, so lassen sich daraus Trends wie Convenience, Curation, Individualisierung und regionaler Konsum verdichten. Im nächsten Schritt sind diese durch innovative Produkte oder Dienstleistungen für das eigene Geschäft nutzbar zu machen.

Zu den Marken, die eine solche Beobachtung und Verknüpfung vollzogen und darauf ihr Geschäftsmodell aufgebaut haben, zählen Kochhaus und Hello Fresh . Beide starten mit der gleichen Grundidee: Kunden werden nicht einzelne Lebensmittel zum Verkauf angeboten, vielmehr können diese eine Mahlzeit auswählen, die sie mögen. Dafür erhalten sie gebündelt alle notwendigen Zutaten in der richtigen Menge. Beide Anbieter legen dabei Wert auf abwechslungsreiche Rezepte, kreiert von Kochexperten, und eine hohe Qualität sowie Frische der Produkte.

Das spricht diejenigen Kunden an, die sich in ihrer Routine überraschen und auf neue Ideen bringen lassen möchten. Unterschiede bestehen hingegen im physischen Kontext, in dem sich die Kunden der beiden Anbieter bewegen: Mit Kochhaus kommen Kunden out of home in Kontakt. Die mittlerweile zwölf Filialen fungieren dabei als „begehbare Rezeptbücher“, sodass bereits die Einkaufsstättenwahl Individualität zum Ausdruck bringt. Hello Fresh hingegen versendet die Zutaten direkt zu Kunden nach Hause und bedient dadurch stärker das Convenience-Bedürfnis .


Auch für bestehende Marken von Handel und Hersteller eignet sich die systematische Betrachtung über den Wachstumsdiamanten, um Produktinnovationen zu entwickeln. Im Handel sind viele Kunden neugierig und auf der Suche nach individuellen Gestaltungsmöglichkeiten für ihren Speiseplan (psychischer Kontext), in der Gesellschaft gewinnt die ethische Vertretbarkeit des Lebensmittelkonsums an Stellenwert (kulturell) und der Genuss von Lebensmitteln wird stärker zum Thema der Selbstdarstellung gegenüber Anderen (sozial). Rügenwalder Mühle hat diese Trends für sich erkannt und mit einer Erweiterung der Schinken Spicker-Produktlinie um vegetarische Varianten reagiert. Seitdem ist das Angebot vegetarischer Alternativprodukte weiter angewachsen, so dass heute bereits vier der zehn meistverkauften Produkte bei Rügenwalder vegetarisch sind.

Am Beispiel Rügenwalder lassen sich damit die zentralen Schritte für die Entwicklung innovativer Ideen festhalten:

§ Systematische Erhebung der Kundenperspektive entlang der Kontextfacetten (Wachstumsdiamant)

§ Kombination der Erkenntnisse aus mehreren / allen Dimensionen und Verdichtung zu Trends

§ Ableiten von Ideen, die diese Trends bedienen

§ Übersetzung in Produkte und Dienstleistungen, die glaubwürdig mit der Marke zusammenpassen

 

Prof. Dr. Franz-Rudolf Esch ist Direktor des Instituts für Marken- und Kommunikationsforschung (IMK) an der EBS Business School in Oestrich-Winkel. Zuvor war er an den Universitäten Saarbrücken, Trier, St. Gallen, Innsbruck und Gießen tätig. Als Gründer von ESCH. The Brand Consultants berät er seit mehr als 25 Jahren in Fragen der Markenführung und Kommunikation.

Thomas Backes berät als Senior Associate bei ESCH. The Brand Consultants in den Bereichen B2B, Finanzdienstleistungen und Konsumgüter / Handel. Zudem begleitet er qualitative und quantitative Studien auf nationaler und internationaler Ebene.