Warenverkaufskunde Shrimpsbestand soll sich dank Quote fangen

Das MSC-Siegel sichert grönländischen Eismeergarnelen einen Platz in den Kühltruhen des Lebensmittelhandels, auch des deutschen. Die Nachfrage ist größer als das Angebot. Die Balance zwischen Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit zu halten, bleibt eine ständige Herausforderung.

Freitag, 12. Dezember 2014 - Hersteller
Sonja Plachetta

Wer es mit Jens Lyberth zu tun bekommt, erkennt gleich, wie der Mann tickt. „Top performance allows no compromises“ steht auf seiner blau-grauen Kjus-Outdoorjacke: „Eine Spitzenleistung erlaubt keine Kompromisse.“ So ist es auch 2008. Lyberth will etwas Besonderes erreichen: die Zertifizierung des Marine Stewardship Council (MSC) für die westgrönländische Eismeergarnelen-Fischerei im Nordwestatlantik. Er ist von der Bedeutsamkeit des Siegels überzeugt, als er den Prozess in seiner damaligen Funktion als Abteilungsleiter im grönländischen Fischereiministerium mit initiiert. „Grönland ist zu 95 Prozent vom Fischexport abhängig, und die Garnelen sind unser wichtigstes Exportgut“, erklärt der 58-Jährige, der heute als Manager für das staatliche Unternehmen Royal Greenland arbeitet, das nach eigenen Angaben weltgrößter Lieferant von Eismeergarnelen ist. Die Shrimps, wissenschaftlich Pandalus borealis genannt, machen mehr als die Hälfte des gesamten Exportwerts Grönlands aus, 2009 waren das umgerechnet 140 Mio. Euro.

Trotz der ökonomischen Bedeutung der Garnelen droht das MSC-Projekt zwei Jahre später wegen innenpolitischer Reibereien zu scheitern. Es schmeckt nicht allen, dass eine ausländische Organisation den Einheimischen vorschreiben soll, wie sie zu fischen haben – ihnen, die seit eh und je hinausfahren und von den Schätzen des Meeres leben. Jeder Fünfte der rund 57.000 Grönländer verdient seinen Lebensunterhalt durch Fischfang.

Doch es geht um die wirtschaftliche Zukunft des Landes – da kennen Lyberth und seine Mitstreiter keine Kompromisse. „Als die Parteien begriffen haben, dass unsere Produkte ohne MSC-Siegel vom Markt ausgeschlossen sein würden, stimmten plötzlich alle der Zertifizierung zu“, sagt er. Deutschland zähle zu den Ländern, in denen unzertifizierter Fisch kaum noch Abnehmer findet. Hierzulande tragen nach Angaben des MSC bereits mehr als 60 Prozent der Fischpackungen im Einzelhandel bzw. 47 Prozent aller verkauften Wildfischwaren das Siegel. Um sich die Marktpräsenz zu sichern, zahlt Royal Greenland nun pro Jahr 0,5 Prozent des Rohwarenwerts für die MSC-Zertifizierung, die nach fünf Jahren komplett neu durchlaufen werden muss.

Der MSC verlangt eine umfangreiche Dokumentation. Es sind Bestands- und Befischungspläne zu erstellen sowie zahlreiche Auflagen zu erfüllen, bis das blaue MSC-Logo im Februar 2013 endlich auf die Garnelenpackungen gedruckt werden darf. Besonders das Erforschen der Beschaffenheit des Meeresbodens ist aufwendig und zieht den Bewertungsprozess in die Länge. Er dauert in Grönlands Fall insgesamt fünf Jahre, durchschnittlich sind es laut MSC nur 14 Monate.

Um die Korallen am Boden zu schützen, müssen die 24 zertifizierten Unternehmen die Fangmethoden auf ihren 31 Garnelenschiffen anpassen. Eines davon ist die Ava-taq, an der Royal Greenland mit 35 Prozent beteiligt ist. 50 km vor der westgrönländischen Küste zieht der Trawler in gut 300 m Tiefe, knapp über dem Meeresgrund, ein leichtes Grundscherbrettnetz an Schleppleinen hinter sich her. Es besteht aus einem trichterförmigen Netzsack, den der Steert, ein fingerförmiges Endstück, abschließt. Getragen wird er auf beiden Seiten von Scherbrettern, die durch den Wasserwiderstand seitlich ausscheren und das Netz horizontal öffnen. Am oberen Tau befestigte Schwimmkörper öffnen es vertikal. Gummi- oder Metallkugeln unterhalb des Netzes verhindern, dass es über den Boden schleift. Einer MSC-Auflage folgend, wurde ein Selektionsgitter integriert. Während die Garnelen ins Netz wandern, werden andere Fischarten vor diesem Trenngitter nach oben geleitet, wo sie durch Fluchtlöcher in die Freiheit entkommen können. So soll der Beifang von durchschnittlich 2,6 Prozent weiter reduziert werden.

Wenn die Avataq-Crew nach vier bis fünf Stunden das Netz hochzieht, finden sich im bis zu 6 t umfassenden Fang auch Makrelen und Kabeljau. Skipper Knud Magnussen, einer von fünf Besitzern der Ava-taq, registriert diese Fischarten vermehrt als Beifang, seit die Wassertemperatur gestiegen ist. Am Boden in 300 m Tiefe ist es 3,8 Grad warm. Vor zehn Jahren seien es noch 1,7 Grad gewesen, berichtet der Skipper. Seine Mannschaft und er müssen die Beifänge laut Vorgaben des MSC genau dokumentieren, und sie dürfen sie nicht ins Meer zurückwerfen. Kontrolliert wird dies jedoch nur nach Vorankündigung, zum Beispiel während des jährlichen Überwachungsaudits, wenn geprüft wird, ob die MSC-Auflagen fristgerecht erfüllt wurden.


Magnussen ist 49 Jahre alt und schon als Kind mit seinen fischenden Eltern aufs Meer gefahren. Er hat die Zusammenbrüche des grönländischen Kabeljau-Bestands in den 1970er- und 1990er-Jahren erlebt, er weiß, dass er sich gegen Schwankungen absichern muss – deshalb besitzt er auch Anteile an einem Heilbuttschiff. Ihm ist bewusst, dass nur nachhaltige Fischerei ihm langfristig seine Einnahmen sichert. Dennoch ist Magnussen unzufrieden mit der von der grönländischen Selbstverwaltungsregierung in Abstimmung mit Wissenschaftlern festgesetzten Fangquote für Garnelen. Sie ist seit 2012 von 105.000 t auf 80.000 t in diesem Jahr gesenkt worden, um den Bestand zu stabilisieren. Die Fischer auf der Avataq dürfen jährlich 1.000 t fangen. Magnussen ist das zu wenig. „Es sind genug Garnelen im Meer“, sagt er.

Während eines vier- bis fünftägigen Trips fängt seine Mannschaft 40 bis 50 t Shrimps, die an Bord bei 0 Grad gelagert und dann zur Verarbeitung in die Fabrik von Royal Greenland in Ilulissat, der mit gut 4.500 Einwohnern drittgrößten Stadt des Landes, gebracht werden. Dort prüft die Qualitätskontrolle Frische und korrekte Temperatur. Wenn eine Charge nach der Analyse zur Verarbeitung freigegeben ist, werden die Shrimps gewaschen, in Salzwasser gekocht, kalt abgeschreckt und schließlich in einem dreistufigen Verfahren sorgfältig geschält. Danach werden sie luftgetrocknet und nach Größen sortiert. Bevor sie verpackt werden, kontrolliert Qualitätsmanager Juaansi Mølgaard mit seinen Mitarbeitern die Chargen und bewertet Merkmale wie Geruch, Geschmack, Konsistenz und Farbe.

In Ilulissat produzieren 80 Angestellte etwa 5.100 t gekochte und geschälte Garnelen pro Jahr. Eine ähnliche Menge liefert die zweite Shrimpsfabrik von Royal Greenland in Sisimiut, die wie die Anlage in Ilulissat ebenfalls MSC-zertifiziert ist. Die komplette Ware wird per Schiff nach Dänemark gebracht und von dort exportiert. Etwa 1.000 t gehen jährlich nach Deutschland. Die gekochten und geschälten Garnelen werden bei Edeka, Kaufland, Lidl, Aldi, Norma und Netto für ihre jeweiligen Eigenmarken verarbeitet.

Der schwierige Spagat zwischen Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit ist wie für Skipper Magnussen auch in der Fabrik in Ilulissat ein Thema. „Aus ökonomischer Sicht ist es beunruhigend, dass die Quote zurückgeht“, sagt Fabrik-Chef Hans Lars Olsen, der wegen der Mengenreduzierung 20 Mitarbeiter entlassen hat. „Die Nachfrage nach Kaltwassergarnelen steigt stetig und ist zurzeit größer als das wegen der Fangquote beschränkte Angebot“, präzisiert Royal-Greenland-Sprecherin Marianne Kragh Rottbøll.

Um trotz der begrenzten Menge die Einnahmen zu sichern, setzt das Unternehmen deshalb auf Premiumprodukte – und die Aufklärung der Verbraucher. „Viele wissen nicht, wie Kaltwassergarnelen richtig zubereitet werden und dass sie im Gegensatz zu den Warmwassergarnelen nicht für gekochte Gerichte geeignet sind“, sagt Rottbøll. „Sie werden gummiartig und verlieren ihren Geschmack, wenn sie gekocht werden.“ Gut geeignet seien sie etwa für Salate, Sandwichs oder Cocktailsaucen. Jeppe Eivind Nielsen, Chefkoch im Restaurant Ulo im Hotel Arctic in Ilulissat, schätzt besonders den süßen, intensiven Geschmack und die feste, saftige Konsistenz der Eismeergarnelen. Das Fleisch ist so fest, weil die Tiere in dem eiskalten Wasser nur langsam wachsen. „Im Schnitt brauchen sie sechs Jahre, bis sie ausgewachsen sind, während dies bei Warmwassergarnelen nur sechs Monate dauert“, erklärt Rottbøll. Je kälter das Wasser sei, in dem die Garnelen leben, desto feiner sei ihr Fleisch.

Wärmeres Wasser lockt also nicht nur Fressfeinde der Garnelen wie den Kabeljau verstärkt an, sondern beeinträchtigt auch die Qualität der Shrimps. Und der Klimawandel ist schon zu spüren. In der Shrimpsfabrik in Ilulissat zum Beispiel, in der die Produktion inzwischen jedes Jahr statt acht bis zu elf Monate läuft, weil das Meer länger eisfrei bleibt als früher. Dass das Eis schmilzt, lässt sich ebenfalls an der erhöhten Fließgeschwindigkeit des Sermeq Kujalleq, einer der aktivsten Gletscher der Welt, ablesen, der sich bis zu 40 m pro Tag bewegt. Die Eisberge, die sich beim Kalben des Gletschers lösen, bilden den Eisfjord bei Ilulissat, der zum Weltnaturerbe der Unesco gehört.

Jens Lyberth sieht aber nicht nur die Erwärmung des Wassers mit Sorge. Investoren schielen auf die grönländischen Rohstoffe im Meer und unter dem Eis, welche durch den Klimawandel einfacher auszubeuten seien. Die Ölbohrungen, die Grönland erlauben will, um die Abhängigkeit von der Fischerei zu reduzieren, hält er für eine Gefahr. Die damit einhergehende Verschmutzung sei unkalkulierbar. „Die Balance in der Umwelt ist schon auf verschiedene Weise gestört“, sagt er. „Wir müssen etwas tun.“ Sieht so aus, als würde er sich weiter engagieren – wieder ohne Kompromisse.

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