Brüsseler Herbstfest des HDE Handel ist Heimat

Die EU hat die Bedeutung des Handels für die Nahversorgung im ländlichen Raum und für funktionierende Innenstädte fest im Blick. Das zeigte die Diskussion auf dem Brüsseler Herbstfest des HDE.

Dienstag, 24. September 2019 - Handel
Andrea Kurtz
Artikelbild Handel ist Heimat
Bildquelle: Philippe Veldeman

3,6 Millionen Handelsunternehmen agieren im EU-Binnenmarkt, sie erwirtschaften 4,5 der Wirtschaftskraft und sorgen für fast 9 Prozent aller Jobs. Ein Drittel des Haushaltseinkommens der EU-Bürger werden im Handel ausgegeben. Diese Fakten stellte Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE) zu Beginn der Podiumsdiskussion auf dem Brüsseler Herbstfest des Verbandes vor rund 300 Gästen aus Politik, Wirtschaft und Verbänden klar.

Wachstum vor allem online
Doch darauf ausruhe könne sich der Handel weder in Deutschland, noch in andere europäischen Regionen. Der Strukturwandel der Branche sei in vollem Gange, die veränderten Konsumentenbedürfnisse, eine nachlassende Nahversorgung und zu viele bürokratische Auflagen seien nur einige der Probleme, mit denen der Handel zu kämpfen habe. Die Branche wachse zwar in toto auch in diesem Jahr um 2 Prozent (rund 537 Milliarden Euro), doch vor allem der stationäre Handel habe zu kämpfen. Dabei wächst der stationäre Einzelhandel um nominal 1,3 Prozent, während der Online-Handel seine Erlöse um rund 9 Prozent auf 57,8 Milliarden Euro erhöht. Damit steht der E-Commerce für fast die Hälfte des absoluten Jahreswachstums im Einzelhandel. Genth: „Der Aufwärtstrend der letzten Jahre geht am mittelständischen Einzelhandel in vielen Fällen vorbei. Die kleineren Unternehmen haben Schwierigkeiten, die Herausforderungen der Digitalisierung zu meistern.“
So nutzen zwei Drittel der vom HDE Befragten den Vertriebsweg Internet nicht. Viele Händler liessen sich insbesondere von den komplexen Anforderungen an den Datenschutz abschrecken. Da nationale Regelungen im globalisierten Online-Handel wirkungslos seien, fordert der HDE Maßnahmen auf EU-Ebene. Genth: „Die neue EU-Kommission muss die Regelungen praxisnah gestalten und nicht weiter verkomplizieren.“

Schwere Bedingungen
Hubert Gambs, Direktor für Modernisierung des Binnenmarkts der EU-Kommission stellt klar, dass Brüssel diese schwierigen Bedingungen des Handels erkannt habe. Schon 2018 hat die EU-Kommission deutlich gemacht, dass sich die „Häufung verschiedenster Vorschriften nachteilig auf die Handelsleistung auswirke“ und die Branche daher auf politische Unterstützung zählen könne. „Eine aktive Regionalpolitik ist unabdingbar für funktionierende Regionen“, sagt Gambs. Dazu gehöre eine territoriale Zusammenarbeit in den Regionen, die Bildung, Jugend, Verkehr, Nachhaltigkeit und Wohlstand zusammenbringt. „Wir tun unser Bestes, um für die Menschen etwas vorwärts zu bringen“, betont er und verweist auf eine Fülle von Modell-Beispielen aus allen EU-Ländern, die von der Kommission zusammengetragen worden sind. Ein Modell aus Rumänien funktioniere sicher nicht eins zu eins auch in Deutschland, zeige aber die aufmerksame Richtung der EU für den Handel an.

Daseinsfürsorge: HändlerPflicht
Maria Noichl, SPD-Politikerin im EU-Parlament aus Rosenheim, stellt den Begriff Daseinsvorsorge in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen. Es sei unbedingt Aufgabe der Politik, den Bürgern zu ermöglichen, in ihrer Heimat bleiben zu können und dafür Sorge zu tragen, dass dort die Versorgung von Schule über Medizin bis hin zum Handel weiter stimme. Viele Menschen hätten Angst angesichts fehlender Nahversorgung oder auch fehlendem Nahverkehr, dass sie abgehängt würden. „Es gibt zu viele Sterbeprozesse auf dem Land; die Metzger und die Bäcker haben wir schon lange verloren“, sagt sie. Das Ziel der EU sagt auch sie, Best-Practice-Beispiele zu geben und kleine Förderungen zu ermöglichen. Es reiche vielleicht schon, einem Bauern zu helfen, einen kleinen Hofladen aufzumachen, der sich dann zu einem Café erweitern können und damit den Grundstock zu einem neuen Dorfkern bilde.

Achtung: unbewohnbare Regionen
Michael Reink, Bereichsleiter Standort- und Verkehrpolitik, sprach von drei Säulen bei den Daseinsgrundfunktionen, die auf keinen Fall wegbrechen dürfen, da ansonsten diese Regionen quasi unbewohnbar sind: medizinische Versorgung, Ausstattung mit Bildungseinrichtungen sowie die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarf. Die ersten beiden könne der Staat sichern; die Versorgung der Bevölkerung mit Waren aller Art nicht. „Der Staat und die Bürger sind darauf angewiesen, dass der Einzelhandel die Versorgung der Bürger gut organisieren kann“, betonte Reink. Ein absoluter Trugschluss sei es jedoch, den Handel zu verpflichten, die Nahversorgung in einer Region aufrechtzuerhalten. „Das ist völlig verfehlte Raumpolitik“, so Reink. „Niemand zieht von Berlin aufs Land, weil dort ein Supermarkt oder Discounter eröffnet hat.“ Stattdessen müsse den Menschen ein Lebensmodell „ländlicher Raum“ ermöglicht werden. Dazu sei aber eine flächenhafte Breitbandversorgung nötig. „Eigentlich reden wir hierbei nicht über ein wirtschaftliches Problem des Handels, sondern über einen gesellschaftlichen Missstand“, erläutert der HDE-Bereichsleiter weiter. „Wir haben in Deutschland ja den einzigartigen Begriff der „Heimat“. Auf die Frage „Was bedroht die Heimat“ haben 79 Prozent der befragten Bundesbürger in einer Allensbach-Studie geantwortet: Das alteingesessene Geschäfte schließen.“ Wer jedoch glaube, dass der Online-Handel die Lösung für die Nahversorgung mit Lebensmitteln auf dem Land ist, werde sich täuschen. „Allein die langen Lieferwege bei gleichzeitiger geringer Bevölkerungsdichte, lassen solche Geschäftsmodelle nicht lukrativ erscheinen“, meint er.

Digital aufrüsten
Markus Pieper, der parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlamen, ist als überzeugter Mittelstandspolitiker seit 2004 in Brüssel, u. a. in den Ausschüssen Industrie, Verkehr und Fremdenverkehr. „Europa ist mehr als Griechenland und Gurkenkrümmung“, sagt er und will vor allem gegen Überregulierungen, Steuerungerechtigkeiten und zuviel Bürokratie vorgehen. Außerdem müsse für die digitale Wirtschaft europäisch aufgerüstet werden. „Ich kann versprechen, dass wir für mehr Breitbandausbau zusammenstehen werden“, sagt Pieper. Die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen habe einen verbindlichen Test aller gesetzlichen Vorhaben für den Mittelsstand beschlossen; das sei doch eine gute Botschaft.