Interview mit Ingmar Ingold Ein unerkannter Schatz

Das Abendbrot avanciert zur wichtigsten Mahlzeit des Tages. Das Unternehmen Franz Wiltmann hat eine Studie zum Thema Abendbrot in Auftrag gegeben. Ein Gespräch mit Ingmar Ingold, Geschäftsführer von Wiltmann, und Jens Lönneker, CEO Rheingold Salon.

Mittwoch, 24. April 2019 - Fleisch
Jens Hertling
Artikelbild Ein unerkannter Schatz
Bildquelle: Studio Hirschmeier

Herr Lönneker, warum hat sich Ihr Institut mit dem Thema Abendbrot auseinandergesetzt?
Jens Lönneker: Das Marktforschungsinstitut Rheingold Salon beschäftigt sich mehr als 30 Jahre mit den Phänomen der Alltagspsychologie. Das Phänomen Abendbrot ist eine der letzten Bastionen einer sich immer stärker individualisierenden Gesellschaft, wo die Gemeinschaft noch erfahren werden kann. Die in der christlichen Tradition verwurzelte Mahlzeit steht in Deutschland für häusliche Gemeinschaft, Privatheit, Sicherheit und Schutz. Für jeden Forscher ist diese Untersuchung deshalb etwas Besonderes.

Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch von einem „Hidden Champion“. Wie kommen Sie zu der Erkenntnis?
In der medialen Öffentlichkeit spielt das Abendbrot keine Rolle, insofern ist unser Auftraggeber, das Unternehmen Wiltmann, hier Vorreiter. Das ist die erste Studie, die uns bekannt ist, die sich explizit damit beschäftigt.

Können Sie bitte den Inhalt der Abendbrotstudie kurz skizzieren?
Durch die Befragung der Probanden haben wir herausgefunden, dass das Abendbrot in Deutschland die wichtigste Mahlzeit des Tages ist. Für viele Familien ist das die einzige Möglichkeit des Tages, gemeinsam am Tisch zu sitzen. 55 Prozent der Befragten haben das Abendbrot als „sehr wichtig“ bezeichnet, weitere 29 Prozent als „eher wichtig“. Das Geheimnis ist das Häusliche und die Gemeinschaft. Beim Abendbrot kann man mit vertrauten Menschen zu Hause ungezwungen Zeit verbringen. Das ist ausgesprochen positiv besetzt. Viele Menschen sehen das gemeinsame Essen am Abend als gelungenen Abschluss eines Arbeitstages, hier können sie loslassen. Viele Menschen, die wir befragt haben, kamen deshalb richtig ins Schwärmen. Das Thema „Abendbrot“ ist ein unbekannter und verkannter Schatz.

Wie meinen Sie das?
Die Thematik wird von den Medien kaum aufgegriffen, es gibt beispielsweise keine mir bekannte Kochshow im Fernsehen, die sich damit beschäftigt. Demgegenüber steht das Ergebnis, dass zwei Drittel der Deutschen das Abendbrotritual regelmäßig pflegen, und es deshalb eine hohe Wertschätzung genießt.

Wie wichtig ist das Abendbrot für die soziale Komponente?
Einige Paare haben mir gesagt, dass ihre Beziehung ohne Abendbrot wohl eingeschlafen wäre – schließlich ist es oft die einzige Zeit des Tages, die man gemeinsam hat. Auch für die Kindererziehung ist die Mahlzeit sehr wichtig. Hier lernen Kinder soziale Regeln, wie man sich am Tisch verhält und oftmals auch, wie man mit Besteck isst. Das Abendbrot ist für die Deutschen zudem sehr intim. Hier nehmen nur Familienmitglieder und enge Freunde teil. Fremde würden hier nicht geduldet. Die lädt man lieber zum Abendessen ein, wo dann auch gekocht wird.

Wie wichtig dabei ist die Wurst?
Das zentrale Referenzprodukt beim deutschen Abendbrot ist die Wurst, das nach Käse und Brot bei der Umfrage am meisten genannt wurde. Für 80 Prozent der Befragten gehört Wurst als Aufschnitt dazu. Der Aussage, „ohne Wurst wäre das Abendbrot nicht komplett“, stimmen 61 Prozent der Befragten zu, für 56 Prozent wäre es „langweilig und fad“. Wenn sie das psychologisch sehen, dann wäre ein Abendbrottisch ohne Wurstwaren in vielen Haushalten nicht akzeptiert, weil es dann aus der Sicht der Befragten kein Abendbrot mehr wäre.

Wird die Bedeutung des Abendbrots steigen?
Rund zwei Drittel der Probanden gehen davon aus, dass die Bedeutung steigt. Die zentralen Gründe: Viele wünschen sich einen „schönen Tagesabschluss“, erfreuen sich an „einer guten Gemeinschaft“, möchten sich „gesünder ernähren“ oder beabsichtigen, „eine Familie zu gründen“.

Wie kann der Handel von der Studie profitieren?
Das Angebot an Abendbrotprodukten ist riesig, das Thema interessant, doch in Bezug auf kommunikative Unterstützung führt das Abendbrot ein Schattendasein. Wir wollten dem Lebensmittelhandel zeigen, dass es sich lohnt, weiterhin auf die margenstarke Warengruppe Wurstwaren zu setzen. Dafür bekommt der Handel Unterstützung vom Produzenten in Form von Kommunikationsleistungen. Das Abendbrot bietet sich für das sogenannte Storytelling geradezu perfekt an.

Herr Ingold, warum haben Sie diese Studie finanziert?
Ingmar Ingold: Weil wir uns als Marke für Genießer für jede Form der Kultivierung von Wurst und Genuss interessieren. Das Abendbrot ist nicht nur tief in der deutschen Esskultur verankert. Es ist in den Haushalten vor allem der zentrale Genussraum: Hier erfährt gerade die Wurst als deutsches Kulturgut ihre verdiente Wertschätzung, hier habe ich die Muße zum Genießen, und hier teile ich gar den Genussraum mit anderen, vertrauten Menschen – was ihn bekanntlich vervielfacht.

Wie könnten die Handelsketten das Thema besser vermarkten?
Das Abendbrot ist eine Konstante im Tagesablauf und wird extrem positiv bewertet. Fast jeder wächst mit ihm auf, findet in der Gemeinschaft Wärme, Schutz und Geborgenheit. Ich denke, das bietet mehr Anknüpfungspunkte als jeder Super Bowl.

Wie könnten die Hersteller dem Handel unter die Arme greifen?
Das Thema Abendbrot ließe sich gemeinsam mit dem Handel gut über Kundenevents, Handzettel oder Verbundplatzierungen spielen. Das Schöne am Abendbrot ist seine integrative Seite: Es schließt niemanden aus, nur weil er andere Essensvorlieben hat; jeder nimmt, worauf er Lust hat, und doch isst man gemeinsam. Der Vermarktung sind daher kaum Grenzen gesetzt.

Herr Ingold, Sie sind seit 2017 in der Geschäftsführung eines nach wie vor familiengeführten Unternehmens. Können Sie ein kurzes Fazit ziehen?
Für ein Fazit ist es noch zu früh. Als Familienunternehmen mit mehr als 130-jähriger Geschichte denken wir in längeren Zeitabschnitten. Unsere gegenwärtige Positionierung halte ich für gut und richtig. Aber die Kunst wird sein, sich von neuen Entwicklungen immer wieder beunruhigen zu lassen, um die richtigen, selbstkritischen Fragen zu stellen, ohne sich dabei aber – beim Beantworten dieser Fragen – aus der Ruhe bringen zu lassen. Unser Kurs muss kontinuierlich nachjustiert werden, aber in kleinen, kaum merklichen Schritten. Sonst verkommt er zum hektischen Zick-Zack-Kurs.

Konnten Sie während Ihres Studiums weitere Branchen kennenlernen?
Während meines Studiums habe ich parallel eine kaufmännische Ausbildung absolviert. Doch ein echtes Eintauchen in andere Branchen oder Unternehmen war mir aus zeitlichen Gründen leider nicht möglich. Letztlich hatte für mich nach der Promotion das „learning on the job“ Vorrang, gerade auch an der Seite meines Vaters.

Welche Aufgabe erfüllt der Beirat im Unternehmen?
Unser Beirat hat in erster Linie eine beratende Funktion. Daher ist es wichtig, in ihm Wissen aus unterschiedlichen Fachgebieten zu bündeln. Auch sollte er keine bloße Kopie der Gesellschafterversammlung sein: Es geht hier um zusätzliche familienfremde Expertise.

Wie unterscheidet sich Ihr Unternehmen von einem Konzern?
Vielleicht können wir so manche Entwicklung länger und gründlicher beobachten. Aber wenn wir mit unseren kurzen Entscheidungswegen etwas beschließen, muss es schnell gehen und mit Ausdauer betrieben werden. Durch größer werdende Sortimente im Handel, häufigere Sortimentswechsel, spezifische Kundenanforderungen und anderes wird die Komplexität immer größer. Wir verstehen uns vor dem Hintergrund ganz offensiv als Komplexitätsbewältiger für den Handel: Wir können das besser als andere, sind agiler.

Im Verfahren um das sogenannte Wurstkartell hat das Oberlandesgericht Düsseldorf Ihr Unternehmen zu einer Geldbuße von 6,5 Millionen Euro verurteilt. Wie ist der aktuelle Stand im Kartellrechtsverfahren?
Wir haben gegen die Entscheidung des OLG Rechtsbeschwerde eingelegt und inzwischen auch die schriftliche Begründung eingereicht. Der Ball liegt nun beim Bundesgerichtshof.

Wie können Sie in Zukunft solche Untersuchungen ausschließen?
Wir haben ein umfangreiches Compliance-System etabliert, mit dem unsere Mitarbeiter immer wieder auf den neuesten Stand der sich permanent weiter entwickelnden Rechtssetzung und -sprechung gebracht werden.

Welche Auslandsaktivitäten gibt es, welche sind geplant?
Wir konzentrieren uns auf den deutschen Markt, auf dem wir mit unserem 30-köpfigen Außendienst aktiv sind. In Zusammenarbeit mit dem Handel haben wir hier noch längst nicht alle Potenziale ausgeschöpft.

Welche Trends können Sie im Fleisch- und Wurstsegment ausmachen?
Tendenziell geht der Fleisch- und Wurst-Konsum in Deutschland rein von der Menge her leicht zurück. Das wird sich so schnell nicht ändern. Aber interessant ist nicht die Größe, sondern die Zusammensetzung des Kuchens. Wir sehen eine Verschiebung in Richtung eines bewussten, anspruchsvollen Wurstkonsums. Mit unseren hochwertigen Spezialitäten – und unseren Bio-Produkten im Besonderen – bedienen wir ebendiesen Trend. Daneben verändern sich aber auch Verzehrgewohnheiten, wie man am Markt für Snack-Produkte sehen kann.

Warum sind gerade Snacks im Kommen?
Bei aller Bedeutung des Abendbrotes, der klassische feste Essensrhythmus mit Frühstück, Mittag- und Abendessen in den eigenen vier Wänden erodiert immer weiter. Viele (Zwischen-)Mahlzeiten müssen kurzfristig, auf die Schnelle oder unterwegs eingenommen werden. Darauf antworten wir, indem wir flexible Snack-Produkte anbieten, bei denen auch der Genussmoment nicht zu kurz kommt. Das jüngste Beispiel sind unsere Salamissimo Salami Sticks. Die Verzehranlässe sind so vielfältig, da reicht nicht eine Grammatur.

Wird das Kerngeschäft immer im Fleischbereich liegen?
Wir haben unsere Kernkompetenz im Veredeln von Fleisch und Wurst. Fleisch- und Wurstwaren sind fest in der deutschen Esskultur verankert – so schnell wird sich das nicht ändern. Ich sehe daher eine Chance darin, unser Profil als Marke für den genussorientierten, hochwertigen Wurstkonsum weiter zu schärfen.

Warum sind Sie nicht wie viele Ihrer Mitbewerber auf den Veggie-Zug aufgesprungen?
Eben weil wir Freunde eines klaren Profils sind. Wir haben uns damals bewusst dagegen entschieden. Wir stehen als Hersteller vor allem für natur- und langzeitgereifte Salami, die ihr Aroma erst nach mehreren Wochen Reifung entfaltet. Das kann ich nicht so einfach – und glaubwürdig – mit Gewürzen und Zusatzstoffen imitieren.

Können Sie sich vorstellen, dass Wiltmann eines Tages auch Invitro-Wurst-Salami anbietet?
Ausschließen will ich das nicht. Es hätte seine Vorteile. Aber bis ein solches Fleisch für die deutschen Endverbraucher bezahlbar ist, wird noch einige Zeit vergehen. Dann wird die Frage sein, ob sie nur in Umfragen oder auch an der Kasse bereit sind, dafür mehr zu zahlen.

Wie denken Sie über die „Initiative Tierwohl“ (ITW)?
Grundsätzlich begrüßen wir alle Initiativen rund um das Thema Tierwohl. Wichtig wird bei alledem die Planungssicherheit für die Landwirte sein. Einen Vorzug im staatlichen Label sehe ich darin, dass die Orientierung auf der Endverbraucher-Seite erleichtert wird. Auch wir als Hersteller müssten nicht zu viele unterschiedliche Label und Siegel bedienen.

Wie entwickelt sich Ihre Gläserne Produktion?
Die Gläserne Produktion ist fester Bestandteil unserer Strategie „mit Sicherheit Genuss“. Mit der Öffentlich- und Transparentmachung unseres gesamten Fertigungsprozesses schaffen wir beim Kunden Vertrauen in unsere Marke und bei unseren Mitarbeitern Stolz und Motivation. Aber auch die Gläserne Produktion müssen wir permanent weiterentwickeln, damit sie up to date bleibt.

Wie zufrieden sind Sie mit der Entwicklung Ihres Sortiments?
Alles in allem sind wir mit der Gesamtentwicklung zufrieden. Im vergangenen Jahr konnten wir unseren Umsatz leicht steigern. Wichtiger noch ist die erfreuliche Entwicklung in einzelnen Segmenten. Unsere aufgeschnittenen Spezialitäten auf dem „Genießerteller“ gewinnen weiter hinzu. Bei unseren Genießer-Pasteten wiederum konnten wir unsere breite Distribution halten. Am dynamischsten haben sich die Felder Bio und Snacking entwickelt. Mit unserer Bedienungsware konnten wir den Umsatz halten.

Wo setzen Sie Ihre Schwerpunkte? Mehr im SB-Bereich oder an der Bedientheke?
Wie sagt man so schön: das eine tun, ohne das andere zu lassen. Mit der Belieferung der Bedientheken der Metzgereien und des Lebensmittel-Einzelhandels sind wir groß geworden. Auch wenn die Umsatzbedeutung von SB größer ist und sein wird: Wir werden den Handel auf diesem wichtigen Profilierungsfeld Bedientheke weiter mit unseren traditionellen Produkten und unserer Beratung unterstützen.

Wie zufrieden sind Sie mit dem Absatz von Bio?
Wir sind mit der Entwicklung sehr zufrieden. Seit unserem Einstieg vor neun Jahren konnten wir uns in dieser Nische eine marktführende Stellung erarbeiten. Wir kommen inzwischen auf 14 Produkte und sind zum wiederholten Male weit über dem Marktdurchschnitt zweistellig gewachsen.

Wie sieht es mit Vermeidung von Verpackungsmüll aus?
Wie Industrie und Handel insgesamt, setzen auch wir uns intensiv mit dem Thema auseinander. Wo es geht, reduzieren wir den Kunststoffanteil weiter, setzen Recyklat oder wiederverwertbare Materialien ein. Doch bei alledem steht ein Punkt über allem: die Sicherheit unserer Lebensmittel. Auch ob uns eine pauschale Verurteilung von Kunststoff weiterhilft, wage ich zu bezweifeln.