Bund oder Länder Der Konflikt der Systemrelevanz

In Neuseeland ist der Osterhase systemrelevant. Das verkündete Premierministerin Jacinda Ardern kürzlich in einer Pressekonferenz. An sich eine schöne Idee, aber in Deutschland bräuchte der Osterhase dafür wohl eine Genehmigung, die er so kurz vor den Feiertagen wohl kaum bekäme. Zumal sich die Bundesrepublik in Bezug auf die Systemrelevanz bisher eher auf grundlegende Dinge konzentriert.

Freitag, 10. April 2020 - Corona Update
Julia Neumann
Artikelbild Der Konflikt der Systemrelevanz
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Den Begriff „systemrelevant“ hört man in letzter Zeit sehr häufig. Mit seiner Verwendung soll differenziert werden, wer oder was für ein funktionierendes System bedeutsam ist. Dabei wird sich stets auf eine bestimmte Situation bezogen. Während der Weltfinanzkrise und der darauffolgenden Eurokrise musste in Deutschland beispielsweise entschieden werden, welche der heimischen Banken systemrelevant sind und welche nicht. Auch in der aktuellen Corona-Krise muss entschieden werden, jedoch viel umfassender als damals. Dabei gibt es zwar Anhaltspunkte und Leitlinien für eine allgemein verbindliche Auswahl an systemrelevanten Bereichen, doch die Entscheidung selbst treffen die zuständigen Behörden der einzelnen Bundesländer.

Anhaltspunkte und Leitlinien

Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) verfasste im Dezember 2008, noch während der Weltfinanzkrise, die Verordnung zur Bestimmung Kritischer Infrastrukturen nach dem BSI-Gesetz (BSI-KritisV). Demnach gelten Infrastrukturen dann als kritisch, wenn ihr Ausfall oder ihre Beeinträchtigung nachhaltige Störungen im Gesamtsystem einer modernen Gesellschaft zur Folge haben. Während der Corona-Krise haben sich besonders zwei Sektoren herauskristallisiert: Der Gesundheitssektor und der Versorgungssektor. Die BSI-KritisV enthält zwar ausschließlich Regelungen bezüglich der Informationstechnik von Unternehmen. Da sich aber die Bundesregierung möglichst einheitliche Vorgehensweisen von den Bundesländern wünscht, hat das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) daran angeknüpft und eine Leitlinie zur Definition der Reichweite des Begriffs KRITIS Ernährung erarbeitet. Dabei bezog man sich auf den Begriff der „Ernährungsunternehmen“, welcher sich bereits im Ernährungssicherstellungs- und Vorsorgegesetz (ESVG) etabliert hat.

Unter den Begriff der KRITIS Ernährung fallen beispielsweise:

Da die Zahl der Hamsterkäufe mittlerweile zurückgegangen ist, verspricht die KRITIS Ernährung somit bald wieder vollere Ladenregale. Denn in den vergangenen Wochen wurden nach und nach immer mehr Bereiche und Personen für systemrelevant erklärt, so auch die Ernährungswirtschaft, inklusive Logistik. Und auch die Verpackungsindustrie konnte sich über das neuerdings so populäre Label freuen. „Damit erkennt die Bundesregierung die wichtige Rolle von Verpackungen für die Versorgungssicherheit der Bevölkerung an“, sagt Oliver Wolfrum, Geschäftsführer des Verbandes der Wellpappen-Industrie (VDW). Folglich wurde die KRITIS Ernährung als Leitlinie vollständig umgesetzt.

Das ist nicht systemrelevant genug

Essen, Mineralwasser und Verpackungen sind also relevant für unser System. In Frankreich, Belgien und Italien wurde sogar das heiß begehrte Toilettenpapier als systemrelevant deklariert. Dazu hat sich bisher kein deutsches Bundesland entschlossen. Schließlich droht weder ein Ausfall der Versorgung – die Hamsterkäufe hatten Handel und Logistik bloß überrumpelt – noch gäbe es im Falle eines Ausfalls nachhaltige Störungen im Gesamtsystem unserer Gesellschaft. Und es gibt ja Alternativen. Bloß verfügen in Deutschland nicht so viele Haushalte über Po-Dusche oder Bidet. Ob sich das nach der Corona-Pandemie ändern wird, bleibt abzuwarten: Der Sanitärfachhandel darf gespannt sein.

Vergleichsweise unverständlich ist jedoch, dass Textilreinigungen bisher bundesweit nicht einheitlich als systemrelevant empfunden werden. Systemrelevante Einrichtungen, bei denen mikrobiologisch unbedenkliche Kleidung notwendig ist, werden laut dem Deutschen Textilreinigungs-Verband (DTV) bundesweit täglich von rund 800 Textilreinigungsbetrieben mit Wäsche und Bekleidung versorgt. Zwar dürfen diese Unternehmen geöffnet bleiben, Sicherheitsmaßnahmen für die Mitarbeiter werden jedoch keine gestellt. Zudem können viele Betriebe wegen mangelnder Auslastung nicht kostendeckend arbeiten und kommen so einer Insolvenz bedrohlich nahe. Engpässe in beispielweise medizinischen Pflegeeinrichtungen oder bei der Lebensmittelherstellung könnten folglich schwerwiegende Folgen für das gesamte System haben.

Ganz ohne Medien geht es nicht

Der Verband privater Medien (VAUNET) verkündete stolz, dass Journalisten bereits in einigen Teilen des Landes als systemrelevant anerkannt wurden. Nach Nordrhein-Westfalen und Bayern zogen diesbezüglich Brandenburg, Baden-Württemberg und Berlin nach. In Niedersachsen dürfen sich Journalisten „ohne Einschränkungen frei bewegen“, also ihre Wohnungen verlassen. Das bringt zwar den Eltern unter ihnen nicht so viel, aber immerhin. Durch die Notwendigkeit von Informationen für das Volk gehören in Bayern auch Betriebe wie der Kiosk zu den kritischen Infrastrukturen – natürlich nur, wenn der Zeitungs- und Zeitschriftenverkauf überwiegt. Doch auch hier gibt es bundesweit Unterschiede. Denn von Seiten der anderen Bundesländer gibt es aktuell keine derartigen Meldungen. Öffnen dürfen die Betriebe dennoch mit demselben Vorbehalt wie in Bayern, was sie in eine ebenso bedenkliche Lage bringt wie die Textilreinigungen – und noch viele weitere (hier nicht genannte) Betriebe.

Zum Schluss bleibt die Frage, ob diese doch sehr uneinheitliche Regelung kritischer Infrastrukturen in Krisenzeiten auf die Dauer überhaupt funktioniert. Die Entscheidung über die Systemrelevanz jedem Bundesland selbst zu überlassen, hat ja zumindest am Anfang der Krise für reichlich Verwirrung gesorgt. Und auch jetzt ist noch längst nicht alles in trockenen Tüchern. Vielleicht wäre es besser, wenn für ganz Deutschland zumindest in Krisenzeiten dieselben Maßnahmen gelten würden. Aber sehen wir es der Regierung nach: In Friedenszeiten ist man selten gezwungen, von gewohnten Pfaden abzuweichen.