McKinsey Der smarte Weg zu immer frischer Ware

Lebensmittelhändler kennen das Problem: Von Frischeprodukten haben sie entweder zu viel oder zu wenig im Bestand. Selbstlernende Technik schafft jetzt Abhilfe.

Montag, 12. Juni 2017 - Management
Christoph Glatzel, Tim Lange
Artikelbild Der smarte Weg zu immer frischer Ware
Immer die richtige Menge da Machine Learning kann dabei helfen.
Bildquelle: Michael Bahlo, McKinsey

Saftige Früchte, knackige Salate, Gemüse wie aus dem Garten: Kunden lieben frische Ware. Kein anderes Segment ist so hart umkämpft im Lebensmittelhandel – und der Wettbewerbsdruck wird immer größer. Auch Discounter, Convenience-Ketten und Online-Händler haben inzwischen erkannt, dass frische Lebensmittel wie kaum eine andere Kategorie Käufer in die Läden locken, Warenkörbe füllen und Kunden dauerhaft binden. Frischeprodukte machen im Einzelhandel bis zu 40 Prozent des Umsatzes aus. In diesem Segment entscheidet sich Erfolg oder Misserfolg des Händlers.

Die Autoren

Tim Lange ist Associate Partner im Kölner Büro von McKinsey und Mitglied der europäischen Supply Chain Management Practice. Er berät u. a. denHandel und Hersteller von Konsumgütern.

Die mit dem Frischesegment verbundenen Herausforderungen sind inzwischen komplexer denn je. Die Artikel sind verderblich, die Nachfrage variiert enorm, die Durchlaufzeit in den Regalen ist oft ungewiss. Zudem führen viele Händler ein breiteres Frischesortiment, das auch exotische und „ultrafrische“ Waren umfasst, die nur Tage oder sogar wenige Stunden haltbar sind – etwa verzehrfertig zubereitete Früchte oder Salate.

Geht es an die Steuerung des Nachschubs, stecken Händler im Dilemma: Bestellen sie zu viel, wird die Ware schlecht und muss abgeschrieben werden. Bestellen sie zu wenig, erleiden sie Umsatzeinbußen und gefährden die Loyalität ihrer Kunden. Wie aber sollen sie bei täglich wechselnder Nachfrage sicher wissen, welche Ordermenge die richtige ist?

Eine vorausschauende Nachschubsteuerung von Frischeprodukten wird daher für Händler immer bedeutsamer. Traditionelle Planungssysteme stoßen bei der Bewältigung dieses Problems rasch an ihre Grenzen. Denn sie arbeiten überwiegend mit starren, regelbasierten Prognosemodellen, die zwar für berechenbare Kategorien akzeptable Ergebnisse liefern, bei Frischeprodukten aber zumeist erhebliche Bestandslücken oder Abschriften nach sich ziehen. Weiteres Manko: Die manuelle Planung von Frischeartikeln mit ihren täglich wiederkehrenden Arbeitsschritten kostet Zeit, ist fehleranfällig und in hohem Maße abhängig von der Erfahrung der einzelnen Disponenten.

Revolution in der Bestandsplanung
Inzwischen gibt es bessere Möglichkeiten, das Nachschubproblem im Frischesortiment zu lösen. Führende Händler haben einen Weg gefunden, der die Supply-Chain-Planung revolutioniert: Machine Learning – maschinelles Lernen. Auf der Basis von Algorithmen, mit deren Hilfe Computer ohne regelbasierte Programmierung aus Daten „lernen“ können, lassen sich bislang manuell ausgeführte Bestellvorgänge automatisieren. Dabei werden die Parameter, die auf die Nachschubsteuerung Einfluss nehmen, individuell auf Artikel- und Marktebene bestimmt und fortlaufend optimiert.

Der Effekt: Bedarfsprognosen werden präziser, Bestellungen wirtschaftlicher. Händler, die im Lagermanagement auf maschinelles Lernen setzen, erzielen mess‧bare Verbesserungen in ihrer Profitabilität: Durchschnittlich 25 Prozent geringere Fehlmengen, mindestens 10 Prozent weniger Abschriften, eine Steigerung der Bruttomarge um bis zu 9 Prozent und bessere Bestandsreichweiten sind häufige Resultate. Gleichzeitig sinken – dank der um bis zu 30 Prozent höheren Automatisierungsrate – die Kosten für die Disposition.

Wie weit Machine Learning ein Unternehmen verändern kann, zeigt das Beispiel einer internationalen Lebensmittelkette mit mehr als 1.000 Filialen: Der Konzern hat mit Hilfe selbstlernender Prognosesysteme die Bestandsplanung für seine Frischwarenabteilungen komplett automatisiert. Und weil dem Händler zudem noch einige lebensmittelverarbeitende Betriebe gehören, konnte er durch Just-in-time-Produktion gleich auch seine Lager- und Herstellungsprozesse zu einer integrierten Einheit zusammenführen. Damit gelang es dem Unternehmen, den Bestand über seine gesamte Lieferkette hinweg zu verringern, die Produktverfügbarkeit zu erhöhen und durchweg frischere Ware in seinen Auslagen anzubieten.

Alles frisch dank kluger Algorithmen
Möglich werden die Verbesserungen durch den Einsatz selbstlernender Algorithmen. Anders als Standardsoftware können sie große Datenmengen aus unterschiedlichsten Quellen zusammentragen, analysieren und anpassen. Dabei stützt sich die Software bei der Erstellung ihrer Prognosen nicht allein auf historische Daten. Vorhersagen, die ein maschineller Lernalgorithmus trifft, beruhen auf einer Vielzahl von tagesaktuellen Parametern – seien es interne Faktoren wie Werbeaktionen und Ladenöffnungszeiten oder auch externe wie das örtliche Wetter oder Feiertage.

Leistungsstarke Algorithmen, die bereits bei führenden Händlern zum Einsatz kommen, analysieren mehr als 50 Parameter – und dies mit einer erheblich höheren Detailtiefe als bei Standardsystemen: Händler können exakt ermitteln, wie sich jeder einzelne Parameter auf die Verkaufszahlen eines Artikels in einer bestimmten Filiale oder einem Distributionszentrum auswirkt.

Aus den gesammelten Informationen generiert das System dann fortlaufend Bestellvorschläge für die gesamte Produktpalette. Jeder Vorschlag zielt auf optimale Produktverfügbarkeit und versucht dabei, Verschwendung und Preisnachlässe so gering wie möglich zu halten. Mitarbeiter können diese Vorschläge von zentraler Stelle aus stichprobenartig prüfen – was bei hochwertigen Lösungen allerdings selten notwendig ist, wie die Praxis zeigt.

Weiterer Vorteil des Systems: In aller Regel arbeitet es Cloud-basiert und steht als Software as a Service (SaaS) zur Verfügung. Anders als viele andere Lösungen sind SaaS-Anwendungen lediglich intelligente Erweiterungen bereits bestehender Systeme zur Ressourcenplanung im Unternehmen. Folglich sind sie flexibler einsetzbar und lassen sich schneller implementieren.

Zugleich sinkt der Arbeitsaufwand für die manuelle Disposition erheblich. Auch erfordert das System keine umfangreichen Investitionen in neue Spezialisten. Anstatt zusätzliches Personal einstellen zu müssen, kann der Händler die Kompetenzen seiner Mitarbeiter ausbauen und die frei werdenden Kapazitäten für Tätigkeiten mit höherer Wertschöpfung einsetzen.

Treffsichere Vorhersagen
Die größte Stärke selbstlernender Lagersysteme aber liegt in der Treffsicherheit ihrer Vorhersagen. Seit Jahrzehnten kalkulieren Händler die Nachfrage nach Produkten, indem sie historische Absatzdaten extrapolieren. Das Manko dieser Methodik besteht darin, dass unbefriedigte Nachfrage stets unberücksichtigt bleibt und deshalb die Prognosen oft zu niedrig angesetzt sind. Moderne Systeme gehen hier anders vor: Die Lernalgorithmen errechnen die Nachfragewahrscheinlichkeit auf der Basis von Absatz- und Bestandsdaten und wägen dabei das Risiko von Abschriften und Umsatzausfällen gegeneinander ab.

Wie gestaltet sich eine solche Vorhersage in der Praxis? Die Grafik auf dieser Seite illustriert exemplarisch die Bestandsprognose für Ananas in einer Supermarktfiliale am 10. Juni: Die vertikalen Balken zeigen an, dass sich die Nachfrage an diesem Tag in diesem Markt voraussichtlich mit vier Ananas decken lässt. Damit ist sehr wahrscheinlich, dass der Händler die meisten oder alle Ananas verkauft – und entsprechend gering das Risiko, dass Früchte im Regal verschimmeln. Was aber, wenn an diesem Tag Kunden eine fünfte oder sechste Ananas kaufen wollen? Dann entgeht der Filiale Umsatz, weil der Artikel ausverkauft ist. Hier hilft die Kosten-Nutzen-Abwägung: Die Kurve in der Grafik zeigt die erwarteten Kosten für jedes Bestandsniveau und stellt dabei mögliche ausverkaufsbedingte Umsatzeinbußen potenziellen Abschriften infolge von Überbeständen gegenüber. Im vorliegenden Fall gibt der Algorithmus neun Ananas als Optimalbestand an, da die erwarteten Kosten bei dann am niedrigsten liegen.

Doch der automatisierte Bestandsmanager kann nicht nur Nachfragewahrscheinlichkeiten vorherbestimmen. Das System ist auch in der Lage, einzelne Bestellungen mit den strategischen Zielen und zentralen Leistungskennzahlen (KPIs) abzustimmen. Ist dem Händler zum Beispiel die Marge wichtiger als der Umsatz, passt der Algorithmus die Orderentscheidungen daran an. Auch kann das System auf die Verbesserung von mehreren KPIs gleichzeitig hinarbeiten. Die in jüngster Zeit entwickelten Algorithmen können noch mehr. Zusätzlich zur Nachschubplanung simulieren sie, wie sich Preisänderungen auf die Nachfrage auswirken. Kommen sie zum Beispiel zu dem Ergebnis, dass eine geringe Preissenkung zu einem deutlich höheren Absatz führen würde, empfehlen sie größere Bestellmengen in Verbindung mit spezifischen Preisanpassungen. Ist hingegen auch bei Rabatten kaum eine Steigerung der Nachfrage zu erwarten, empfiehlt das System kleinere Bestellmengen, um Einbußen durch Preisnachlässe zu vermeiden. Da sich die Preiselastizität nicht selten täglich verändert, können selbstlernende Systeme, die kontinuierlich neue Preis- und Nachschubdaten aufnehmen, die Rentabilität eines Händlers spürbar verbessern.

Auswirkung auf interne Prozesse
Damit die Software die gewünschten Ergebnisse auch liefern kann, sollten Händler ihre Geschäftsprozesse den neuen technologischen Möglichkeiten anpassen. Es gilt, die Geschäftsstrategie für das Frischesegment neu auszurichten und in konkrete Sortimentsrichtlinien zu übersetzen – etwa welche Artikelpositionen zu welchen Tageszeiten immer vorrätig sein müssen. Ferner sollten sämtliche Planungsprozesse überprüft werden – bis in einzelne Filialen und die Lagerverwaltung hinein. Unter Umständen muss sich auch der Lieferrhythmus ändern: Bestimmte Frischeprodukte erfordern möglicherweise zwei Lieferungen pro Tag, wenn sie nicht während der Geschäftszeiten ausgehen sollen. Solche Umstellungen machen zugleich eine Anpassung der Kapazitätsplanung in den Distributionszentren notwendig. Auch die Personalprozesse im eigenen Haus werden sich ändern. Mit der neuen technologischen Unterstützung können Bedarfsplaner sowohl auf Filialebene als auch in der Zentrale ihre Zeit künftig anders einteilen und benötigen neue Leistungsindikatoren oder Anreize.

Bilder zum Artikel

Bild öffnen Die Visitenkarte des Händlers: Hier zeigt sich, wie gut die Warenwirtschaft organisiert ist.
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