Amazon fresh Gefahr im Verzug?

Für die einen ist Amazon der Angstgegner, für die anderen der neue Partner und Wachstumsgarant. Was gilt es zu fürchten und welche Chancen eröffnen sich im Online-Handel?

Montag, 17. April 2017 - Management
Bettina Röttig
Artikelbild Gefahr im Verzug?
Bildquelle: Amazon, Martin Kämper, Santiago Engelhardt

Ist endlich eingetreten , was der deutsche Lebensmittelhandel seit einigen Jahren mit Schrecken erwartet: der offizielle Start von Amazon Fresh in Deutschland? In den wenigen Tagen zwischen Redaktionsschluss und Auslieferung der druckfrischen LP kann genau das passiert sein. Denn in den vergangenen Wochen kochten erneut die Gerüchte hoch um einen schnellen Start des Lebensmittellieferdienstes – befeuert durch Meldungen zum neuen Lager in München für gekühlte Ware, die Kooperationen mit Händler Tegut und der Post-Tochter DHL.

Bisher ist noch jeder vermeintliche Starttermin ereignislos verstrichen, doch sollte der große Tag endlich da sein, bleiben dennoch die relevanten Fragen: Wie groß ist die „Bedrohung“ durch den E-Commerce und insbesondere Amazon für den deutschen Lebensmittelhandel? Was versprechen Kooperationen mit den Amerikanern? Und was bietet Amazon? Wir haben mit Experten gesprochen und uns angeschaut, wie reibungslos die Lebensmittellieferung über Amazon Prime Now in Berlin und Amazon Fresh in den USA und UK läuft.

6 bis 8 Mrd. Euro Umsatz könnte der stationäre Lebensmittel-Einzelhandel mittelfristig an den E-Commerce verlieren, glaubt man einer Analyse der Strategieberatung Oliver Wyman. Amazon könnte dabei mit Fresh einen hohen Anteil an den Online-Umsätzen erzielen. Eine Bedrohung sehen die Berater vor allem für die Vollsortimenter: etwa 15 Prozent ihrer Filialen könnten Verluste machen und bis zu 40.000 Arbeitsplätze könnten sich in den Onlinebereich verschieben.

Ein durchaus realistisches Szenario, meint der Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland (bevh). Von aktuell 1,2 Prozent müsste der Anteil des E-Commerce am Lebensmittelhandel innerhalb der nächsten drei bis fünf Jahre auf 3 bis 5 Prozent steigen, prognostiziert der Verband. Einem Start von Amazon Fresh sieht man in Berlin positiv entgegen. Der US-Händler habe in der Vergangenheit immer wieder Benchmarks gesetzt und sei bereits seit Langem großer Lebensmittelanbieter im Trockensortiment. „Amazon ist zudem wesentlicher Teil der Infrastruktur im Online-Handel, sei es als Marktplatz, Logistik- oder IT-Anbieter, und hier nicht mehr wegzudenken“, sagt Christoph Wenk-Fischer, Hautgeschäftsführer des bevh. Wenn jetzt auch das Frische-Segment als Eigengeschäft dazu komme, zeige dies, dass der Markt dafür schon reif sei und dass Amazon ihn selbst, aber auch in Kooperation mit anderen „bespielen“ und auch für andere weiterentwickeln könne. Es gebe daher keinen Grund, vor Angst oder Ehrfurcht zu erstarren, sondern Anlass autonome Konzepte zu prüfen oder sich auf die mit Amazon und seinen Partnern entstehende Infrastruktur einzulassen.

Die Konkurrenz
An autonomen Konzepten arbeitet der LEH bereits aktiv. Zu den bereits etablierten Lieferservices von Rewe, Edeka und Bünting (vgl. Tabelle S. 16) ist Kaufland im Herbst 2016 mit einem Zustelldienst in Berlin gestartet, es folgte die erste Abholstation. „Aktuell sucht Kaufland nach Standorten auch in kleineren Städten für Depots“, weiß Uwe Trocha, Leiter Verbrauchermärkte und Discounter bei Robert C. Spies Gewerbe und Investment. Lidl hingegen hat sein angekündigtes Multi-Channel-Konzept noch vor dem Start eingestellt, Globus schloss gerade seine Abholstation. Das Geschäft ist eben noch kein Selbstläufer und es ist besonders kostenintensiv. Rund 100 Mio. Euro verdiente die Rewe Group nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr mit ihren digitalen Angeboten. Schwarze Zahlen sind jedoch noch nicht in Sicht. „Die aktuellen notwendigen Investitionen in das digitale Geschäft sehen wir als Absicherung für die Zukunft unseres Unternehmens“, erklärt Jan Kunath, im Vorstand der Rewe Group für den Einkauf, das Internationale Handelsgeschäft und Rewe Digital verantwortlich. Denn der Kunde wolle sich nahtlos bewegen zwischen den Kanälen: „Wenn er wenig Zeit hat, kann er online einkaufen, wenn er z.B. Inspiration, Auswahl und Beratung sucht, geht er in einen Rewe-Supermarkt“.


Imagefaktor Amazon
Während die meisten Händler mit eigenen Konzepten gegen Amazon antreten, setzen andere auf ein partnerschaftliches Verhältnis zu den Amerikanern. So beliefert Bünting den Händler, seit März dieses Jahres auch Tegut. Die ersten eigenen Gehversuche im Online-Handel mit eigenem Bio-Shop sowie Kooperationen mit Gourmondo und Bünting wurden allesamt gestoppt. Einen eigenen Lebensmittel-Lieferdienst aufzuziehen, kommt für den regional agierenden Händler derzeit nicht in Frage (s. Interview. S. 14). Rund 5.500 Artikel des Trockensortiments – Marken- und Eigenmarkenproduke – liefert die Migros-Tochter seit Anfang März für Amazon.de sowie die Services Pantry und Prime Now (nur Berlin und München). Letzteres wird als Vorstufe für den Lebensmittellieferdienst Fresh gesehen. Mit der Kooperation will Tegut im Online-Geschäft mitspielen, aber zu einem kalkulierbaren Risiko. Den eigenen Bekanntheitsgrad für die Flächenexpansion in neue Gebiete durch Amazon zu steigern, ist eines der Hauptargumente für die Kooperation. Gutberlet zügelt jedoch seine Erwartungen: „Wir gehen am Anfang von keinen großen Umsatzvolumina aus“. Der Umsatz eines großen Tegut-Marktes wäre in Ordnung und realistisch, wie z. B. dm Drogeriemarkt schon berichtet habe. „Wenn es mehr wird, ist es auch gut. Man darf sich aber nicht den Illusionen hingeben, dass die Umsätze stetig steigen werden. Je besser es läuft, desto schneller werden wir nicht mehr benötigt“, meint der Tegut-Chef. Denn werden die Umsätze mit einzelnen Produkten interessant für Amazon, dann beziehen die Amerikaner diese bald direkt beim Hersteller. „Beste Chancen“ hingehen habe man mit den Tegut-Eigenmarken. „Wenn sich die Artikel im Gesamtsortiment und den Verkaufsrankings gut schlagen, man einen Tegut-Wein z. B. unter den Top 10 findet, dann haben wir eine gute Chance, dass sie sich auch langfristig behaupten und das Geschäft für beide Seiten interessant bleibt.“

Eine Partnerschaft mit Amazon hat sich auch DHL als Zustelldienst für Lebensmittel gesichert – selbst mit der Tochter Allyouneed Fresh im Grunde Konkurrent des US-Händlers. „Wir sehen jeden neuen Player im Markt als positiven Impuls für dieses immer noch neue Modell des Lebensmitteleinkaufs. Durch neue Anbieter wird der Markt beflügelt und wir bekommen zusätzliche Aufmerksamkeit von den Medien und Verbrauchern“, gibt sich Max Thinius, Sprecher von Allyouneed Fresh, pragmatisch.

Amazon Prime Now im Test
Doch wie sieht er aus, der Angstgegner und Wunschpartner in Personalunion? Was macht Amazon besser als andere und wo sind eventuell die Schwächen der Amerikaner? Wir haben uns den Lieferdienst Prime Now, in Berlin angeschaut und eine versierte Amazon-Kundin einkaufen lassen. Das Fazit: Vor Ehrfurcht erstarren muss kein Wettbewerber.

Eiscreme, Wein, rohe Eier, Frischfleisch, Obst und Gemüse – für unseren Amazon-Einkauf in Berlin suchten wir natürlich solche Produkte aus, die eine Herausforderung darstellen. Ein üppiger Wocheneinkauf war es am Ende nicht. Amazon hätte deutlich mehr verdient, wären die Produkte leicht zu finden. Unsere Testerin hingegen gab nach 45 Minuten auf, zu lange und kompliziert war ihr die Produktsuche über die App, immer wieder wurde sie an den Anfang zurückgeworfen und nicht einmal einfache Selektionen, z. B. nach Rot- oder Weißwein, waren möglich. So landeten in diesen 45 Minuten gerade einmal zwölf Produkte im Warenkorb – der Einkauf im gewohnten Supermarkt wäre schneller gegangen. Weitere Kritikpunkte: Unflexible Mengen (z. B. bei Frischfleisch im Prepack), Out-of-Stocks (es gab z. B. keinen Naturjoghurt mit 3,5 Prozent Fett, auch keinen geräuchterten Lachs) und unreifes Gemüse.


Vor allem jedoch verärgerten fragwürdige Suchergebnisse. So ist Käse derzeit bei Prime Now gleichbedeutend mit Frischkäse, der geforderte Brie war unauffindbar. Tegut hätte zusätzlichen Umsatz gemacht, wäre der eigene Wein unter den Schlagwörtern „Wein“ (61 Vorschläge) oder „Tegut Wein“ zu finden gewesen. Zu spät wurde er über Umwegen beim Durchstöbern des gesamten Tegut-Sortiments entdeckt. Abenteuerlich auch die Bestellung von Eiern und Naturjoghurt: Hier schlug die App den ungenießbaren Leifheit Eierschneider Duo bzw. ATA Scheuermilch vor. Für einen echten Treffer und gratis Lachyoga sorgte die Suche nach Bananen: Die Liste führten Bio-Bananen aus fairem Handel an, gefolgt von Sniffys Unisex Ganzkörper-Bananenkostüm und dem Mundpflegeset für Babys mit Apfel-Bananen-Zahnpasta. Pluspunkte sammelte der Dienst in Sachen Qualität der Waren: Bis auf extrem unreife Tomaten waren alle Waren unbeschädigt und in der richtigen Temperatur geliefert worden. Als sehr kulant zeigte sich der Händler bei der Reklamation, erstattete den Betrag der Produkte zurück, während die Testerin die Ware behalten durfte. Enttäuschung hingegen beim Leergut. Kunden müssen dieses bei einem Partner-Getränkemarkt oder anderen Annahmestellen abgeben. Eine Chance für den stationären Supermarkt, wo man gleichzeitig die Lebensmittel einkaufen kann, die Amazon nicht liefern konnte.

Amazon Fresh in der Kritik
Um einiges besser hatte Amazon Fresh abgeschnitten, als die Lebensmittel Praxis den Service vor rund zwei Jahren in den USA testen ließ. Dabei überzeugte Fresh z. B. in den Punkten Auswahl, Lieferung und Produktqualität. Minuspunkte gab es für das komplizierte Registrierungsverfahren und hohe Gebühren. Rund 500.000 Produkte des täglichen Bedarfs umfasst das Angebot laut Website in den USA. Die Besonderheit: Lokale Geschäfte und Restaurants können mit Amazon kooperieren. Dass nicht alles so glatt läuft, zeigt ein Blick in Internet-Foren und Bewertungsportale. Unverhältnismäßig viel Verpackungsmaterial und die Verwendung von vielen einzelnen Einkaufstaschen für jeweils wenige Artikel kommen beim Kunden sowohl aus Nachhaltigkeitsaspekten als auch aufgrund ihrer platzraubenden Aufbewahrung nicht gut an. Behälter und Verpackungsmaterial, das von Amazon zurückgenommen werden soll, bleibt zum Teil tagelang vor der Tür liegen, ohne dass ein Fahrer es abholt. Moniert wurde in der Vergangenheit immer wieder, dass es technisch noch immer nicht möglich sei, das gewählte Lieferfenster zu ändern, ohne die Bestellung komplett stornieren und noch einmal neu vornehmen zu müssen. Immer häufiger erreichen unvollständige Lieferungen die Kunden – ohne Vorwarnung oder Nachfrage, welches Produkt möglicherweise als Alternative gewünscht wird. Das Ergebnis: Bequemlichkeits- und Zeitfaktor sind dahin, der Kunde muss doch in den nächsten Supermarkt.

Den größten Minuspunkt vergaben die User ebenso wie unsere Tester für den Kostenfaktor, weshalb Amazon immer wieder mit neuen Pricingmodellen experimentiert. Neben dem Ärgernis über die Erhöhung des Mindestbestellwertes (zwischenzeitlich von 35 auf 50 USD, aktuell auf 40 USD) und steigenden Produktpreisen, wird vor allem Kritik an der Gebühr für den Service geübt. Zu der regulären Prime-Gebühr von 99 USD kommen aktuell 14,99 USD pro Monat (zuvor 200 USD zusätzliche Jahresgebühr), in Großbritannien wird zusätzlich zu den 79 GBP für das Prime-Jahresabo eine monatliche Fresh-Gebühr von 6,99 GBP fällig. Im preisorientierten Deutschland werden die Kosten ein entscheidender Faktor für die Akzeptanz sein. Hier zahlen Prime-Mitglieder weniger als in den USA, die Gebühr wurde jedoch kürzlich von 49 Euro auf 69 Euro pro Jahr bzw. 8,99 Euro/Monat angehoben.

In einigen Punkten scheint die hiesige Konkurrenz schon weiter zu sein. So macht es Allyouneed Fresh beispielsweise seinen Kunden möglichst einfach, jederzeit und von überall aus Produkte des täglichen Bedarfs in ihren Einkaufskorb zu legen. „Dafür bieten wir von Erinnerungsfunktionen über Messenger wie WhatsApp und SimsMe bis hin zu neuen Technologien wie dem intelligenten Mülleimer, der weggeworfene Produkte scannt und nachbestellt, oder der Bestellung per Spracheingabe mit Alexa oder Google Home eine Vielzahl an Optionen“, erklärt Sprecher Thinius. AllyouneedFresh sei auch der einzige Online-Supermarkt, der die verfügbaren MHDs der angebotenen Lebensmittel beim Bestellprozess anzeigt. „Und wir sind führend mit unserem Lieferkonzept mit Mehrwegboxen bei dem so gut wie gar keine Versandverpackung für den Kunden anfällt. Er erhält nur die Tüten.“ Stellt sich die Frage, ob sich Amazon hiervon eine Scheibe abschneiden wird oder sich den ganzen Kuchen einverleiben möchte.