Frei von Aber bitte mit ohne

Die Lust auf Verzicht hält an. Immer mehr Verbraucher greifen bewusst zu Lebensmitteln, die ohne Gluten, Laktose oder Fleisch hergestellt sind. Für den Handel sind Frei-von-Angebote wertvolle Instrumente zur Kundenbindung. Neue Platzierungskonzepte versprechen steigende Umsätze.

Donnerstag, 12. Mai 2016 - Management
Bettina Röttig
Artikelbild Aber bitte mit ohne
Neues Shop-in-Shop-Konzept für Fleischfreies mit Bedientheke bei Hieber in Lörrach.
Bildquelle: Mirco Moskopp, Stefan Mugrauer, tegut, Sonja Plachetta

Nischenprodukt oder Randsortiment: Was einen solchen Stempel trägt, wird schnell unterschätzt. Dabei können gerade diese Spezialprodukte immens zur Profilierung beitragen. Ein Beispiel hierfür sind die sogenannten Frei-von-Sortimente im Lebensmittelhandel. „Ob glutenfrei, laktosefrei oder fleischfrei – Clean-Label-Sortimente sind heute ein Muss für jeden Händler. Dabei ist der Umsatz mit den Produkten viel weniger entscheidend als deren Marketingfaktor. „Als Händler signalisieren Sie mit diesen Sortimenten, dass Sie am Puls der Zeit sind und alle Zielgruppen bedienen“, erklärt Markus Kuckhoff, Hausleiter des E-Center Kreuzberg in Neuwied. Frei-von-Sortimente seien renditestark und wichtig für die Kundenbindung, verdeutlichte auch Michael Radau, Vorstand der Super-BioMarkt AG im Rahmen des Kongresses Menschen & Märkte von Lebensmittel Praxis und Meine Familie & Ich. Dabei gab er einen Einblick in die Größe der Zielgruppen (vgl. Grafik S. 42). Interessan t: Zum Teil beanspruchen deutlich mehr Verbraucher eine Intoleranz bzw. Unverträglichkeit in Bezug auf Laktose, Gluten oder Histamine für sich als der offiziell geschätzte Anteil an Betroffenen in der Bevölkerung. Umgekehrt sieht es bei Fructose aus. Rund 33 Prozent der Bevölkerung in Deutschland hat Schätzungen zufolge mit einer Fruchtzuckerintoleranz oder -unverträglichkeit zu kämpfen. Aber nur 10 Prozent der Bundesbürger zählen sich dazu. Noch Luft nach oben also.

Produkte, die frei sind von Laktose oder Gluten, verkauften sich fast von selbst, erklärt Markus Kuckhoff. Die Menschen seien heute sensibilisiert, über die sozialen Netzwerke informiere sich die Community der Betroffenen gegenseitig, wo welche Produkte zu finden seien. Das Angebot wächst weiter. Im vergangenen Jahr warben knapp 18 Prozent der Produktneuheiten im Mopro-Regal mit dem Attribut laktosefrei – fast doppelt so viele wie im europäischen Durchschnitt. Jede vierte laktosefreie Innovationen war zudem vegan. Neue Impulse setzen Hersteller vor allem mit pflanzlichen Alternativen ohne Soja. Kokos, Lupine, Mandel, Reis oder Hafer sind die neuen Basiszutaten für Alternativen bei Milch, Joghurt und Eiscreme.

Bei den glutenfreien Produkten ist ein Trend zum Verzicht auf Getreide zu erkennen. So machte 2015 getreidefreies Mehl nach Beobachtung der Mintel-Marktforscher 23 Prozent aller neuen Mehlprodukte in Deutschland aus. Ein Jahr zuvor waren es noch 10 Prozent. Bevorzugt werden dabei vor allem Hülsenfrüchte wie Linsen, Erbsen, Sojabohnen und Lupinen. Bei Brot- und Backwaren kamen Produkte ohne Getreide bereits auf einen Anteil von 9 Prozent an den Neueinführungen. Da Mehl ohne Getreide in der Regel einen höheren Proteinanteil habe als Weizenmehl, könne dieser Werbeclaim auch Verbraucher ansprechen, die sich proteinreich und kohlenhydratarm ernährten, rät Katya Witham, Senior Food and Drink Analyst bei Mintel.

Neue Getreidealternativen werden auch von Glutenfrei-Spezialist Dr. Schär zunehmend eingesetzt. „Für unsere glutenfreien Produkte verwenden wir neben Reis- und Maismehl immer öfter auch Kastanienmehl, Sorghum, Quinoa, Hirse, Buchweizen und Linsen. Auch hochwertiger Sauerteig spielt eine große Rolle – er sorgt für das weiche Brotinnere und eine knusprige Kruste“, erklärt Matthias Müller-Thederan, Vertriebsleiter für Europa Mitte bei Dr. Schär Deutschland.

Am meisten Spaß macht dem Handel derzeit das fleischfreie Sortiment. Das vegane Angebot sei heute ein wichtiges Instrument zur Gewinnung von Neukunden sowie für die Kundenbindung, sagt Kuckhoff. Seine Beobachtung: Kunden, die zu veganen Produkten greifen, geben insgesamt mehr für Lebensmittel aus. Häufig landeten hochwertige Weine oder Champagner mit im Wagen, aus der Obstabteilung eher die Exoten. Rein vegan sei der Einkauf häufig nicht, bei vielen Kunden stünde stärker der Faktor Lifestyle im Fokus. Das hätten viele Hersteller erkannt.

Fleischfreie Umsatztreiber
Beinahe jeder vierte Bundesbürger zwischen 16 und 24 Jahren isst mehrmals im Monat Fleischersatzprodukte, ergab eine Analyse der Mintel-Marktforschung. Ein Grund dafür ist sicherlich auch das wachsende Angebot in der Plus- und Minuskühlung. Nach den Erfahrungen von Friesland-Campina, seit vergangenem Jahr mit Valess ins TK-Segment eingestiegen, ist es noch immer eine Herausforderung, fleischfreie Schnitzel & Co. in TK anzubieten. Doch mit wachsendem Angebot würde sich die Kategorie auch in den Truhen etablieren, gibt sich das Unternehmen zuversichtlich. Hierbei helfen bekannte Namen wie die Rügenwalder Mühle, Wiesenhof, Dr. Oetker und die junge Marke Like Meat. Erfolge feiert auch Schne-frost mit Produkten auf Gemüsebasis ohne Fleischersatz unter der Marke Avita.

Dynamisch gewachsen

Laut Marktforschern von Nielsen erwirtschaftete der Lebensmitte- Einzelhandel im Jahr 2015 einen Umsatz von 152,5 Mio. Euro mit vegetarischen Wurst- und Fleischalternativen – eine Verdoppelung der Umsätze im Vergleich zum Vorjahr. Rund zwei Drittel davon entfallen auf den klassischen LEH, der damit ein Umsatzwachstum von rund 89 Prozent verzeichnete. Die Discounter kamen im Vergleich zu 2014 sogar auf ein Plus von 213 Prozent.


Starke Impulse setzen Markenartikler aktuell mit verzehrfertigen Convenience-Produkten. Vegetarische und vegane Kartoffel-, Geflügel- und Wurstsalate (u. a. von Popp, Homann und Vegafit) sollen Teilzeit- und Vollzeitvegetarier zum Zugreifen animieren. „In unserer schnelllebigen Zeit erreicht Convenience-Food immer höhere Absatzzahlen. Wenn diese Speisen auch noch ohne Fleisch sind, aber genauso gut schmecken wie die klassischen Originale, dann spricht man nicht nur Fleischliebhaber, sondern auch die wachsende Zahl der Flexitarier an“, erklärt Thomas F. Huber, Geschäftsführer von Landhof. Der österreichische Wurst-Spezialist hat mit einem vegetarischen Wurstsalat und Chili non Carne erste fleischfreie Gerichte unter der Marke Die Ohne eingeführt. Das Unternehmen setzt bei seiner Veggie-Marke auf weitere Clean-Label-Aspekte wie den bewussten Verzicht auf Gluten, Soja und Konservierungsstoffe. Bald wird die Range zudem komplett frei von Palmfett und Geschmac ksverstärkern sein.

Dass Ready-to-eat-Produkte immer wichtiger im sehr dynamisch wachsenden fleischfreien Segment werden, davon ist man auch bei Friesland-Campina überzeugt. Gemeinsam mit Merl hat das Unternehmen drei Feinkostsalate unter der Marke Valess ins Kühlregal gebracht und geht damit einen Schritt, um diese in neuen Segmenten anzubieten. Die Salate to go made by Merl sind in drei Varianten erhältlich (griechische Art mit Nudeln, Thai-Curry-Art mit Nudeln, mediterrane Art mit Zartweizen) und kommen ohne Konservierungsstoffe aus. Eine kleine Gabel ist beigelegt. „Die Merl- Produkte werden gut vom Handel angenommen“, sagt Michaela Rogge, Senior Brand Manager Valess D/A/CH. Für besonders wichtig hält Rogge die Platzierung der Artikel. „Bei Ready-to-eat-Produkten handelt es sich häufig um Impulsartikel, die entsprechend in frequentierten Bereichen platziert werden sollten“, empfiehlt sie.

Platzierungsmodelle im Test
Auf der Suche nach der richtigen Präsentation der Frei-von-Angebote wird derzeit einiges ausprobiert. Bei Edeka Kreuzberg hat sich die Blockplatzierung für die unterschiedlichen Segmente als erfolgreicher erwiesen als die Zuordnung der Artikel zu den Sortimenten. Auf 22 laufenden Metern bietet das E-Center fleischfreie Chilled-Food-Produkte prominent im ersten Kühlregal an. Glutenfreie Produkte werden im Hauptkundenlauf auf Gondelköpfen präsentiert, im Kühlregal finden Kunden laktosefreie Molkereiprodukte, darunter immer mehr pflanzliche Alternativen, zusammen platziert. Die richtige Strategie, meint auch Björn Seifert, Head of Customer Development, Shopper Marketing & Field Salesforce von Friesland-Campina. Interne Studien hätten ergeben, dass der Absatz von laktosefreien Produkten bei einer Blockplatzierung um bis zu 4,5 Mal höher sei als bei einer Zuordnung der Artikel in den entsprechenden Segmenten.

Händler Tegut hat im neuen Markt am Gravensteiner Platz in Frankfurt einen großen Baustein im Bereich Trockensortiment geschaffen, in dem Produkte aus den Bereichen Raw-/Superfood, Vegan und Glutenfrei im Verbund präsentiert werden. „Die gemeinsame Platzierung hat den Vorteil, dass zum einen die Produkte für die ,Frei von‘-Bedürfnisse gut erkennbar sind und viele sensibilisierte oder darauf angewiesene Kunden so auch Neues entdecken können“, erklärt Stella Kircher von Tegut. Die glutenfreien Artikel, die speziell für die Zielgruppe der Zöliakiebetroffenen hergestellt werden, sind noch einmal zusätzlich in einem besonderen Regal angeboten. Produkte wie Reiswaffeln oder Maismehl, die z. B. von Natur aus glutenfrei sind, würden hingegen in der entsprechenden Warengruppe zugeordnet.

Wie eine besonders konsequente, ansprechende und kundenfreundliche Präsentation des fleischfreien Sortiments aussieht, zeigt neuerdings Vorzeige-Edekaner Hieber. Im Lörracher Markt kommt der Kunde nicht mehr an dem Sortiment vorbei. Gleich zur Beginn des Kundenlaufs wurde in der Obst- und Gemüseabteilung eine Art Shop-in-Shop-System mit Trockensortiment und gekühlter Frische integriert. Blickfang ist dabei die farbenfrohe „Veggie Bar“ mit vegetarischem und veganem Aufschnitt oder Grillgut, Pfannengerichten und Feinkostsalaten in Bedienung.

Was woanders Veggietheke heißt und z. T. eher als Anhängsel von Fleisch- oder Käsetheke getestet wird, avanciert hier zu einem Highlight im Markt, das die Ware emotional in Szene setzt. Für die kompetente Beratung wurden Mitarbeiter eingestellt, die sich selbst aus Überzeugung vegan ernähren.

Definitions- Lücke geschlossen
Die Begriffe „vegetarisch“ und „vegan“ sind bisher rechtlich nicht geschützt. Das soll sich nun ändern. Die Verbraucherschutzminister der Länder haben Ende April 2016 einen Vorschlag für eine rechtsverbindliche Definition der Begriffe beschlossen. An der Formulierung waren auch der VEBU und die Lebensmittelwirtschaft beteiligt. Die Formulierung:

(1) Vegan sind Lebensmittel, die keine Erzeugnisse tierischen Ursprungs sind und bei denen auf allen Produktionsund Verarbeitungsstufen keine Zutaten (einschließlich Zusatzstoffe, Trägerstoffe, Aromen und Enzyme), Verarbeitungshilfsstoffe oder Nicht-Lebensmittelzusatzstoffe, die auf dieselbe Weise und zu demselben Zweck wie Verarbeitungshilfsstoffe verwendet werden, die tierischen Ursprungs sind, in verarbeiteter oder unverarbeiteter Form zugesetzt oder verwendet worden sind.

(2) Vegetarisch sind Lebensmittel, welche die Anforderungen des Absatzes 1 erfüllen, bei deren Produktion jedoch abweichend davon Milch, Kolostrum, Farmgeflügeleier, Bienenhonig, Bienenwachs, Propolis oder Wollfett/Lanolin aus von lebenden Schafen gewonnener Wolle, oder deren Bestandteileoder daraus gewonnene Erzeugnisse zugesetzt oder verwendet worden sein können.

(3) Einer Auslobung als vegan oder vegetarisch stehen unbeabsichtigte Einträge von Erzeugnissen, die nicht den jeweiligen Anforderungen des Absatzes 1 oder 2 entsprechen, nicht entgegen, wenn und soweit diese auf allen Produktions-, Verarbeitungsund Vertriebsstufen trotz geeigneter Vorkehrungen bei Einhaltung der guten Herstellungspraxis technisch unvermeidbar sind.

(4) Die Absätze 1 bis 3 gelten entsprechend, wenn für Lebensmittel Informationen verwendet werden, die aus Verbrauchersicht gleichbedeutend mit „vegan“ oder „vegetarisch“ sind.

Bilder zum Artikel

Bild öffnen Getreidefreie Produkte verleihen dem Glutenfrei- Segment neue Impulse und sprechen eine größere Zielgruppe an.
Bild öffnen Neues Shop-in-Shop-Konzept für Fleischfreies mit Bedientheke bei Hieber in Lörrach.
Bild öffnen Das vegane Sortiment wächst weiterhin sehr dynamisch.
Bild öffnen Tegut platziert Veganes, Rawund<br />
Superfood sowie Glutenfreies in einem Block.